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Panorama: "Unvollendete Vergangenheit": Gemein ist der Menschen Wesen

Etwas ist faul im Staate Belgien. So faul, dass es eines Tragikers bedarf, die unheilvollen Verflechtungen zwischen Justiz und Verbrechen darzustellen und den Sündenfall von Königshaus und Staatsapparat in Worte zu fassen.

Etwas ist faul im Staate Belgien. So faul, dass es eines Tragikers bedarf, die unheilvollen Verflechtungen zwischen Justiz und Verbrechen darzustellen und den Sündenfall von Königshaus und Staatsapparat in Worte zu fassen. Belgien, der Fall Dutroux zeigt es, steckt in seiner größten Staatskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. An die Aufarbeitung seiner jüngsten Geschichte ist noch gar nicht zu denken, und man fragt sich: Was kann die Literatur dazu beitragen?

Die Köpfe der Hydra

Hugo Claus, der 1929 in Brügge geborene Flame, der Dichter und Maler, Mitglied der neoavantgardistischen Künstlergruppe Cobra, der Übersetzer, Drehbuchautor und Regisseur, will es offensichtlich wissen. Mit drei Romanen, "Die Gerüchte", "Das Stillschweigen" und jetzt "Unvollendete Vergangenheit", legt er den Finger in die Wunde Belgien. Claus, ein Tragiker wie Belgien ihn nötig hat, schildert in seinen Büchern einen verfilzten Staatsmoloch, dessen Selbstheilungskräfte erschöpft sind: Schlägt man der Hydra den Kopf ab, schießen zwei neue nach. Und so heißt die Schicksalsfrage: Rückfall in die Welt der monarchistischen Willkürherrschaft oder Bruch mit der voraufklärerischen Vetternwirtschaft?

Abhilfe muss von außen kommen; im jüngsten Roman in Gestalt des pensionierten Kommissars Gilbert, der noch dem alten System gedient hat. Schon in seiner aktiven Zeit war er ein Außenseiter, ein Mann mit unfehlbarem Gedächtnis, und jetzt stellt er sich, als Notanker quasi, ohne Ehrgeiz für das eigene Fortkommen ganz in den Dienst der Aufklärung. Gilbert ist ausgestattet mit dem psychologischen Gespür dessen, der alle menschlichen Leidenschaften und ihre mitunter abwegigen Pfade gesehen hat. Ein Mosaiksteinchen nur, und er kann das ganze Bild rekonstruieren: "Übrigens, mir reicht manchmal schon ein halbes Wort. Jahrelang Verhöre geführt. Ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, weiß ich meist, ehe er es ausgesprochen hat."

Gilbert ist der passionierte Wahrheitssucher schlechthin, und Bruder Noël, Ex-Lagerist in einem modernen Schreibwarenladen, sein Gegenspieler. Seit seine Mutter ihn so unglücklich fallen ließ, dass sein Kopf Schaden nahm, gilt Noël als Idiot, kann er nur Hilfsarbeiten annehmen. Noël ist einsam und führt Selbstgespräche, seit ihm seine Frau weggelaufen ist. Seine Neigung zum Selbstgespräch macht sich Gilbert zunutze. Aber eigentlich ist es der erzählerische Kunstgriff von Hugo Claus, die Kunst des Verhörs als Frage-Antwort-Spiel zu inszenieren, das dem Kommissar wie dem Täter (wie dem Leser) bewusst machen soll, was sie unbewusst schon wissen.

Belgien braucht einen Tragiker, und so lesen sich die Romane von Hugo Claus wie Tragödien. Die Verhör-Situation ist dialogisch strukturiert: Sie erfordert immer einen, der zuhört, und einen, der spricht. Nur die langen Monologe Noëls, die sich zur Ich-Erzählung ausweiten, lassen uns mitunter vergessen, dass wir es hier mit einer Sprechsituation zu tun haben, in der die Sprecher-Hörer-Relation durchgängig umkehrbar ist.

In Noëls Monologe sind wiederum imaginierte bzw. rekapitulierte Dialoge eingebaut, die den Eindruck des Dramatischen weiter verstärken. Dieser Kunstgriff, die Erzählung ganz und gar in mündliche Rede aufzulösen, unterscheidet Hugo Claus von den anderen großen europäischen Erzählern seiner Zeit. Er macht seine Romane so faszinierend schlank, kompakt und schnörkellos, dass sie wie Konzentrate ihrer selbst erscheinen und dabei leicht lesbar, spannend und psychologisch überzeugend wirken. Ohne weitere Bearbeitung wären sie als Theaterstücke oder als Hörspiele aufführbar - und werden gelegentlich auch als solche realisiert.

Trotzdem gibt es hier scheinbar Überflüssiges. Etwa wenn Noël aus seiner Zeit als Lagerist erzählt und sich umständlich in Einzelheiten verliert, die gar nichts zur Sache tun. Doch sehr rasch wird deutlich, dass das scheinbar Funktionslose zu Noëls Charakterisierung viel beitragen kann. Immer mehr wird er zum Spiegel der belgischen Gesellschaft: Einerseits ist er mehr als korrekt, pflichtbewusst und diszipliniert, andererseits nimmt er das Recht selbst in die Hand.

Auch das Fachgeschäft, in dem Noël arbeitet, ist ein Spiegel der belgischen Gesellschaft: ein gewinnorientiertes, großzügiges Kaufhaus mit angeschlossener Buchhandlung und Computerabteilung, aber seit Generationen in Familienbesitz und quasi monarchisch geführt. Mijnheer Felix, das Oberhaupt dieser Schreibwarenladen-Dynastie, regiert seinen Laden autokratisch: Von einem thronartigen Sessel aus prüft er die Kassenzettel, döst oder verzehrt er Sahnetorte mit Bitterschokolade und Schlagrahm. Von den Kämpfen, die seine Untertanen derweil austragen, vom Unterschleif, den die meisten von ihnen recht ungeniert begehen, ahnt er nichts.

Das kleine Reich des gar nicht so glücklichen Mijnheer Felix ist die ironisch-böse Systemstudie einer anachronistischen Staatsform, in der der Monarch zugleich als oberster Gesetzgeber und Richter fungiert und als solcher kläglich versagt. Denn ist die Katze erst einmal aus dem Haus, kurz vor oder kurz nach Ladenschluss, tanzen die Mäuse auf den Tischen. Dann sitzt bisweilen Noël auf dem Thron und hört sich etwas aus seiner Jazz-Sammlung an - er ist eben bei weitem nicht so debil, wie alle Welt glauben möchte, sondern ein begabter Idiot und ein Wahrsprecher.

Auch die andere Typen in diesem belgischen Kosmos sind uns bekannt, ja haben im Schreckensszenario von Kinderpornographie und Kindesmord traurige Berühmtheit erlangt: Patrick Dekerpel etwa, zuständig für die Buchhandlung, bekommt Briefsendungen mit anstößigen Fotos - und später einmal die Quittung. Und weil Dekerpel einflussreiche Freunde hat, übernimmt Noël die heikle Mission gleich selbst.

Abgründe hinter der Fassade

Ein ruhiger, fast elegischer Ton liegt in dieser Prosa. Kommissar Gilbert lässt sich Zeit, geduldig wie Columbo folgt er den Spuren. Und dennoch passiert viel in diesem schmalen Roman: Noël weiß davon farbig zu erzählen, und Hugo Claus versteht es, Sprache in seinen Figuren geschickt auszulösen. Hinter der geputzten Fassade des Gemeinwesens (hier einmal im Wortsinne zu lesen) erspürt er den Abgrund. Er reibt sich seit jeher an Belgien, sein ganzes literarisches Schaffen ist Aufarbeitung von Geschichte. Deren Gespenster werden auch hier wieder gerufen, etwa in Gestalt von Noëls Bruder René, der vermutlich als Söldner in Afrika ums Leben kam.

Jeder Roman, so schmal er auch sein mag, ist als Panorama angelegt, ein skizziertes Panorama, das gar nicht weiter ausgemalt werden muss, und so ist diese Literatur - auf ihre Art - nicht weniger reich als die große Erzählkunst des 19. und 20. Jahrhunderts.

Lutz Hagestedt

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