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Urteil des Bundesgerichtshofs: Keine Helmpflicht für Fahrradfahrer - vorerst

In Deutschland gibt es weiter keine Helmpflicht für Fahrradfahrer – weder direkt noch indirekt. Trotzdem hat das Urteil des Bundesgerichtshofs Konsequenzen. Lesen Sie hier, was dahinter steckt.

Radfahrer müssen bei Unfällen nicht automatisch mithaften, wenn sie ohne Helm unterwegs sind. Das Urteil des Bundesgerichtshofs lässt Radlern ihre bisherige Freiheit. Die Politik lehnt die Einführung einer Helmpflicht ab. Dennoch ist der Streit um das Thema durch die Auseinandersetzung erneut aufgeflammt.

Wie kam der Streit über den Helm zum Bundesgerichtshof?

Durch ein strittiges Urteil der Vorinstanz, dem Oberlandesgericht Schleswig vom Mai 2013, das einer Frau eine 20-prozentige Mitschuld anlastete, weil sie keinen Helm trug. Die heute 61 Jahre alte Physiotherapeutin aus Glücksburg in Schleswig-Holstein war schwer am Kopf verletzt worden, als sie gegen die plötzlich geöffnete Tür eines parkenden Autos fuhr. Entscheidend sei das besondere Verletzungsrisiko im täglichen Straßenverkehr, hieß es im damaligen Urteil. „Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden.“ Ein Helm könne da Schutz bieten, urteilte das OLG, seine Anschaffung sei auch wirtschaftlich zumutbar. „Daher kann nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird.“

Wie gehen die Gerichte bisher mit solchen Fällen um?

Das Urteil des OLG war ein Ausreißer. Andere Obergerichte, wie etwa Nürnberg, Hamm oder Karlsruhe, haben ein Mitverschulden abgelehnt, wenn es sich um Radfahrer handelte, die ihr Rad als normales Fortbewegungsmittel und nicht als Sportgerät nutzten. Die Schleswiger Richter setzten sich von dieser Rechtsprechung jedoch bewusst ab. Sie wollten einen Schritt weiter gehen und bezogen sich auf ein Grundsatzurteil des BGH von 1979, wonach ein Mitverschulden des Geschädigten auch ohne das Bestehen gesetzlicher Vorschriften angenommen werden kann, wenn er „diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt”.

Wie begründet der BGH sein Urteil?

Er knüpft an der alten Linie zum Sorgfaltserfordernis an, sieht jedoch noch kein gewandeltes „allgemeines Verkehrsbewusstsein“ in der Hinsicht, dass ein Helm unter Radfahrern heute selbstverständlich sei. Im Gegenteil. Die Richter nehmen Zahlen und Umfragen zum Maßstab, nach denen die Helmträger eine Ausnahme bilden. Ihr Anteil steigt zwar allmählich, doch er ist für den BGH offenbar noch nicht groß genug, um auf einen Bewusstseinswandel zu schließen. Das Urteil ist damit nicht in Stein gemeißelt. Andere Umstände könnten zu einem anderen Ergebnis führen.

Welche Chancen gibt es für eine Helmpflicht?

Derzeit keine. Die Politik fürchtet, die Radler zu verschrecken und wieder zum Umsteigen ins Auto zu bewegen. Langfristig ist eine Helmpflicht jedoch nicht ausgeschlossen. So war es beispielsweise auch bei Motorradfahrern. Erst bekamen sie vom BGH eine Mitschuld aufgebrummt, wenn sie ohne Helm fuhren, zehn Jahre später folgte auch der Gesetzgeber.

Wie oft verlaufen Rad-Unfälle tödlich?

Obwohl die Zahl der Fahrradfahrer zunimmt, kommt es zu weniger tödlichen Unfällen. Für das vergangene Jahr meldet das Statistische Bundesamt 354 im Straßenverkehr tödlich verunglückte Fahrradfahrer, ein Rückgang von mehr als zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr (2012: 406). Zum Vergleich: Die Zahl der tödlich verunglückten Fußgänger ist höher und nahm sogar noch gegenüber dem Vorjahr zu auf 556 (plus sieben Prozent). Abwärts geht es auch mit der Zahl der verletzten Radfahrer: Knapp 113 000 waren es im vergangenen Jahr, fünf Prozent weniger als im Jahr zuvor.

Fordern Verbände, Versicherungen und der Bund eine Helmpflicht?

Eine Pflicht nicht unbedingt, die meisten fordern aber die Radfahrer eindringlich dazu auf, einen Helm zu tragen.

Beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GdV) sagt Sprecher Stephan Schweda: „Wir sind selbstverständlich dafür, dass jeder ein Helm aufsetzt, der mit dem Fahrrad unterwegs ist." Denn wer keinen trage, riskiere eben „unter Umständen“ schwere Verletzungen. Im Übrigen könne „von dem Urteil nicht abgeleitet werden, ob die Versicherer müssen zahlen oder nicht“, wenn ein Radfahrer keinen Helm trage. Es müsse „immer der Einzelfall betrachtet werden" bei einer Verletzung im Straßenverkehr. Beim Bundesverkehrsministerium heißt es, man setze „auf Freiwilligkeit“ und spreche sich gegen eine Helmpflicht aus. Andererseits werbe das Ministerium dafür, auf dem Rad einen Helm zu tragen. Diese Position entspricht ziemlich genau der aller Bundesländer. Bei deren gemeinsamen Verkehrsministerkonferenz,hieß es, es sei „gut und vernünftig“, einen Fahrradhelm zu tragen, „und wir raten allen, dies zu tun“.

Wie fahrradverrückt ist Deutschland?

Ganz und gar, denn fast jeder Deutscher hat ein Rad. 71 Millionen Fahrräder stehen in deutschen Haushalten, meldet das statistische Bundesamt – und es werden immer mehr: Ein Plus von zwei Millionen in den vergangen vier Jahren spricht für sich. Nach einer gemeinsamen Befragung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs mit dem Bundesverkehrsministeriums würden noch mehr Menschen aufs Rad umsteigen, wenn sie sich sicherer im Straßenverkehr fühlten. Nachbesserung fordern die Deutschen nicht nur beim Ausbau der Radwege, sondern auch beim Angebot von Abstellplätzen für ihre Räder. Denn immer mehr Bundesbürger nutzen auf dem Weg zur Arbeit oder in die Stadt zunächst das Rad und anschließend öffentliche Verkehrsmittel oder umgekehrt. Der Umfrage zufolge nutzt ferner mehr als die Hälfte der Deutschen mindestens gelegentlich das Rad und sie sind bereit für das gesundheitsfördernde Verkehrsmittel immer mehr auszugeben: im Durchschnitt sind es 658 Euro, fast hundert Euro mehr als zwei Jahre zuvor.

Wie müssen sich Radler auf Elektrofahrrädern schützen?

Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung diskutieren auch hier die Juristen. Ist ein solches Rad ein „Kraftrad“ im Sinne der Straßenverkehrsordnung? Dann jedenfalls muss während der Fahrt ein „geeigneter Schutzhelm“ getragen werden, wenn die „bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit“ des E-Bikes mehr als 20 km/h beträgt. Wer sicher gehen will, sollte sich ein langsames E-Bike kaufen. Für leistungsstarke Elektrofahrräder kann zudem ein Mofa-Führerschein notwendig werden.

Wie ist die Situation in anderen Ländern?

Unterschiedlich, zum Teil auch gestaffelt nach Alter. Australien, Neuseeland und viele US-Bundesstaaten haben die Helmpflicht, ebenso Finnland und Malta. Belgien, Lettland, Rumänien und die Niederlande empfehlen den Schutzhelm. In Spanien droht sogar ein Bußgeld, jedoch soll es Ausnahmen geben, wenn Radler lange Steigungen zu bewältigen haben oder extreme Hitze herrscht.

Was gilt in anderen Risikosituationen?

Ob Selbstschutz gesetzlich vorgeschrieben ist, spielt nach Urteilen der Gerichte eine untergeordnete Rolle. Es geht darum, was man nach allgemeiner Auffassung erwarten darf. Auch bei Skifahrern gibt es keine Helmpflicht, dennoch hatte etwa das Oberlandesgericht München eine Mithaftung bei einem unverschuldeten Unfall anerkannt. Gleiches gilt für den Reitsport, oder den Verzicht auf Badeschuhe im Schwimmbad. Ob Skater oder Mountainbiker mithaften sollen, wird unter Juristen zumindest diskutiert.

Welche Bedeutung hat das Verkehrsmittel Rad in Berlin?

200 000 waren aufs Rad gestiegen, einige hatten den Nachwuchs auf dem Kindersitz dabei, viele trugen einen Helm, sogar Mitglieder einer Gruppe von FKK-Anhängern, die ansonsten splitternackt Kurs aufs Zentrum nahmen. Rekordbeteiligung meldeten die Veranstalter der 38. Berliner Fahrrad-Demo am 1. Juni, die sich in diesem Jahr gegen zugeparkte Radwege richtete und mehr Verkehrssicherheit forderte. Das Fahrrad gewinnt als Verkehrsmittel rasant an Bedeutung, damit steigen die Ansprüche der „Umsteiger“ vom Auto aufs Rad an den Senat.

Dabei lebt, wer in Berlin aufs Rad steigt, nicht unbedingt gefährlicher, als wenn er zu Fuß die Straßen quert. Im Gegenteil, 2013 verunglückten neun Radfahrer tödlich, bei den Fußgängern waren es 14. Schwer verletzt wurden dagegen etwas mehr Fahrradfahrer (583) als Fußgänger (448). Aber das Risiko, im Straßenverkehr leichte Verletzungen zu erleiden, ist auf dem Fahrrad erheblich größer (4327 Fälle) als für Fußgänger (1674).

Mehr als 2,7 Millionen Fahrräder gibt es in Berlin, in drei von vier Haushalten steht mindestens ein Rad. Zum Vergleich: Nur jeder zweite Haushalt verfügt über mindestens ein Auto. Der Berliner Senat fördert den Umstieg vom Auto aufs Rad. Je mehr auf dem Rad unterwegs sind, desto sicherer fahren sie, denn die große Zahl fördere die „Sichtbarkeit“. Auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club zitiert Studien, wonach „bei zunehmendem Radverkehr das individuelle Verletzungs- und Todesrisiko abnimmt“. Täglich werden laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung rund 1,5 Millionen Wege in Berlin mit dem Rad zurückgelegt. Bis zum Jahr 2025 will der Senat zusätzliche 0,6 bis 0,9 Millionen Wege vom Auto aufs Rad verlagern. Und die Länge der Strecken soll steigen: von jetzt durchschnittlich 3,7 auf 4,6 Kilometer. Zudem soll die Zahl der „kombinierten Wege“ zunehmen, die Berliner teils mit Rad und teils mit Bus oder Bahn zurücklegen, von drei auf fünf Prozent. Dazu sollen fünf Millionen Euro je Einwohner und Jahr in „Maßnahmen und Programme speziell für den Radverkehr“ fließen. Im „Endausbau“ soll das „Hauptnetz“ der Fahrradrouten durch Berlin 350 Kilometer umfassen. In drei Jahren soll es fertig sein, verspricht der Senat – ausgeschildert und „in gut befahrbarer Qualität“.

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