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Vergewaltigung in Indien: Scham und Schande

Eine Frau wird aus ihrem Dorf gejagt, weil sie ihren Vergewaltiger anzeigt. Ein Mann kämpft dafür, dass dieser alltägliche Horror endet. Seit der Sexualmord an einer Studentin Indien aufgeschreckt hat, debattiert das Land über sein Frauenbild. Doch der Widerstand gegen den Wandel ist stark.

Sie spricht stockend, kaum versteht man sie, der Blick ist starr auf den grauen Steinboden gerichtet. Sie schämt sich für das, was geschehen ist in jener Nacht vor sieben Monaten, als ihr Mann Nachtschicht hatte und sie alleine zu Hause war. Reglos sitzt sie auf ihrem Stuhl, nur manchmal zieht sie das Wolltuch fester zusammen, das sie gegen die klamme Winterkälte über den grünen Sari gewickelt hat.

Wir treffen uns in den schlichten Räumen einer Hilfsorganisation im Süden Delhis. „Absolute Anonymität“ war die Bedingung für dieses Gespräch mit der hübschen, schmalen Frau, deren Gesichtszüge etwas Kindliches und Trauriges haben, und die auf der Stirn ein rotes Bindi trägt, den Schmuck verheirateter Hindu-Frauen. Wie sie heißt, ist unwichtig in einem Land, in dem viele Frauen erlebt haben, wovon sie berichtet. Also nennen wir sie Pooja. Aber sie könnte auch Lakshmi heißen oder Fatima oder Preeti. Sie steht für das Heer an Vergewaltigungsopfern, das von der Gesellschaft ausgegrenzt, von Polizisten drangsaliert wird und sich von einer schleppenden Justiz verraten fühlt.

Bis vor Kurzem ist dieses Heer unsichtbar geblieben. Dann, nach dem Mord an der jungen Studentin, die in einem Bus vergewaltigt und gefoltert worden war, zeigte es sich in immer mächtiger werdenden Protestmärschen. Vielleicht gibt das Pooja nun den Mut, von sich zu erzählen.

Sie ist 27 Jahre alt und stammt aus einem Dorf am Rande Delhis, wo noch immer mittelalterliche Regeln herrschen. Bereits mit zwölf ist sie verheiratet worden, mit 17 bekam sie einen Sohn, zwei Jahre später eine Tochter. Sie kann kaum richtig schreiben und lesen. Und doch ist sie für ihre Verhältnisse eine emanzipierte, eine selbstbewusste Frau. Sie wird Unternehmerin und eröffnet einen Schönheitssalon im ersten Stock ihres kleinen Hauses. Der Laden ist ihr Ticket für ein besseres Leben, ihr kleines Stück Freiheit, ihr ganzer Stolz.

Sie scherzt mit ihren Kundinnen, wenn sie ihnen mit einem Faden die Augenbrauen zupft, ihnen Bleichmasken auflegt, die die Haut weißer machen sollen, oder ihnen die Nägel lackiert. Man tratscht über die Nachbarn. Und spottet über die Männer. Es ist ein bescheidenes Leben, aber doch ein relativ gutes.

Aber das war früher. Vor jener Nacht im heißen Monat Juni. Bevor sie fliehen muss, weil sie es wagt, dagegen aufzubegehren, vergewaltigt worden zu sein. Im Haus gegenüber von Poojas Familie wohnt ein Mann, der einen Süßwarenladen betreibt. Der Nachbar beginnt, Pooja zu fotografieren. Es ist ihr unangenehm. Doch was soll sie tun?

Ihr Mann arbeitet in einer Fabrik, oft auch nachts, sein Lohn und ihre Einkünfte reichen der vierköpfigen Familie gerade für ein armes Leben. Wie in vielen Häusern Indiens ist die Toilette außerhalb der Wohnung gelegen. Poojas Mann hat Nachtschicht, als der Nachbar ihr dort auflauert. Er zerrt sie in die Toilette und fällt über sie her. „Er hat mich gefangen und vergewaltigt“, sagt sie tonlos, die Miene steinern, als hätte sie ihre Gefühle eingefroren, um den Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen.

Die Polizei jagt die Frau davon

Es ist ein doppelter Schmerz. Sie hat auch erfahren, was daraus folgt, ihn zu zeigen. Als sie ihren Mut zusammennimmt und zur Polizei geht, bestellt die den Vergewaltiger ein. Er kommt mit seiner Mutter als Beistand. Pooja sieht, wie die beiden mit dem Polizisten tuscheln, sie meint zu sehen, wie sie ihm Geldscheine zustecken. Wenige Stunden später taucht derselbe Polizist bei ihr zu Hause auf und verlangt, dass sie die Anzeige zurückzieht. „Er hat gedroht, dass er im ganzen Dorf erzählen würde, dass ich eine schlechte Frau bin, die mit anderen Männern schläft“, sagt sie. „Und er hat versprochen, dass der Nachbar mich in Frieden lasse.“ Unter diesem Druck zieht Pooja die Anzeige zurück. Auch ihrem Mann verschweigt sie, was passiert ist.

Doch es wird immer schlimmer. Die Polizei auf seiner Seite wissend, wird der Nachbar nun erst recht dreist. Über Wochen stellt er Pooja nach, wird immer rabiater. Von Angst zermürbt, verriegelt sie das Haus, sobald ihr Mann weg ist, traut sich kaum noch zur Toilette. Als der Nachbar auch noch versucht, ihre achtjährige Tochter zu vergewaltigen, geht sie zu dessen Ehefrau. Doch die beginnt, sie vor den Augen des Dorfes zu ohrfeigen.

Erst da erfährt ihr Ehemann von der Geschichte. Und Pooja hat Glück. Er stellt sich hinter sie und geht gemeinsam mit ihr zur Polizei, um den Mann anzuzeigen. „Aber die Polizei hat uns weggejagt“, sagt Pooja. „Sie haben gesagt, wenn ihr nicht abhaut, sperren wir deinen Ehemann wegen Vergewaltigung in den Knast.“

In ihrer Not wendet sich ihr Ehemann an einen Lokalpolitiker, einen Mann von der Hindu-Partei BJP, der tatsächlich auch bei der Polizei interveniert. Mit Erfolg, die nimmt Poojas Anzeige nun auf, der Vergewaltiger wird verhaftet. Doch für Pooja und ihre Familie ist der Albtraum damit nicht vorbei.

Sie haben gegen das Gesetz des Schweigens verstoßen, und das Dorf rächt sich. Nachbarn beschimpfen Pooja als Hure. Man droht, ihre Kinder zu entführen, was keine leere Drohung in Indien ist. Die Familie weiß sich in ihrer Angst nicht anders zu helfen, als das Dorf zu verlassen und nach West-Delhi zu ziehen, weit weg in die Anonymität der Riesenstadt. Pooja hockt nun den ganzen Tag zu Hause. Wie tot fühle sie sich, sagt sie. Was ist aus ihrem Kosmetikladen geworden? Da beginnt sie zu weinen.

Amitabh Kumars Augen leuchten. „Das hat man noch nicht gesehen“, sagt er und schiebt einen Stoßseufzer hinterher: „Gott sei Dank, endlich gehen Leute auf die Straße.“ Der 29-jährige Sohn eines Professors spricht fließend Deutsch. Sieben Jahre hat er in Freiburg IT-Technik studiert, dann bekam er durch Zufall einen Job beim Centre of Social Research in Delhi, das sich gegen Frauengewalt wendet. „Darin sehe ich mehr Sinn, als Mikrochips zu bauen“, sagt er.

Nun ist er auf dem Sprung. Es ist Samstagabend. Und gleich will er zum Jantar Mantar, der historischen Sternwarte, dem Zentrum der Proteste in der indischen Hauptstadt. Seit bald drei Wochen protestieren dort Menschen, trotz bitterer Kälte und Temperaturen von zwei, drei Grad über null. Die Demonstrationen sind kleiner geworden, aber sie gehen weiter. Wie Amitabh wollen viele junge Inder ihr Land verändern. „Verbietet euren Töchtern nicht, abends auszugehen, sondern lehrt eure Söhne, sich anständig zu benehmen“, fordern Plakate.

Sicherlich war es die extreme Bestialität der Tat, die die Menschen fassungslos macht. Doch es ist auch ein Kampf der Kulturen, ein Konflikt zwischen Gesellschaftsklassen, der das Drama über den Einzelfall hinaushebt. Hier kollidieren das alte und das neue Indien.

Die reaktionären Kräfte sind stark

Das Mädchen personifizierte die junge, aufstrebende Mittelschicht, die von einem Aufstieg aus der Armut, einem besseren, freieren Leben träumt. Die 23-Jährige studierte Physiotherapie, wollte Ärztin werden. Dabei stammte sie aus einer armen Familie, die vor Jahren nach Delhi gezogen war. Ihr Vater schuftet als Gepäcklader am Flughafen, 70 Euro im Monat verdient er. Er musste ein Stück Land in seinem Heimatdorf verkaufen, um das Studium seiner Tochter zu finanzieren. „Ich wollte ihr die gleichen Chancen bieten wie meinen Söhnen“, sagt er. Das ist in Indien keineswegs selbstverständlich. Umgekehrt stehen die fünf mutmaßlichen Täter, die sich seit Montag vor Gericht verantworten müssen und überwiegend auf nicht schuldig plädieren, für das patriarchalisch-archaische Indien, in dem Frauen Freiwild sind und nach Belieben vergewaltigt, verprügelt, ermordet werden, wenn sie aufbegehren.

Der Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre hat Indien rasant verändert. In den Städten ist eine junge Mittelschicht herangewachsen, die ausbricht aus alten Zwängen. Es gibt Mädchen und Frauen, die ihre Körper nicht länger verhüllen wollen, als müssten sie sich dafür schämen, Frauen zu sein. Die ihre Rechte einfordern. Die zur Arbeit gehen, ins Restaurant oder ins Kino.

Wie die junge Studentin. Sie war an jenem verhängnisvollen Abend des 16. Dezember mit ihrem Freund in dem Film „Schiffbruch mit Tiger“ gewesen, bevor die Täter das Paar in einen Bus lockten. Der Mord raubte auch die letzte Illusion, dass eine Frau sicher ist, wenn sie sich „an all die idiotischen Regeln hält, die unsere Gesellschaft ihnen auferlegt“, sagt Amitabh. „Sie war konservativ angezogen. Sie war nicht alleine aus. Und es war nicht spätabends.“

Diesmal blickten die Medien nicht weg. Vor allem die englischsprachigen Zeitungen und TV-Kanäle, die sich als Sprachrohr der Mittelschicht verstehen, nahmen sich des Themas an. Reißerisch und sensationslüstern, aber auch leidenschaftlich, und sie ergriffen Partei. „Stoppt diese Schande“, forderte der News-Sender NDTV. „Wo ist mein Indien?“, fragte „Times Now“. Seit drei Wochen berichten sie über das Verbrechen und ersparen dem Publikum keines der grausigen Details. Die Nation kann nicht wegschauen. Traumatisiert leidet das Land mit dem sterbenden Mädchen, das zur „Tochter Indiens“ geworden ist.

Doch die Proteste weiten sich erst aus, als die wiedererstarkte Studentengewerkschaft Delhis sich an deren Spitze setzt. „Die haben überhaupt keine Angst“, sagt Amitabh. Dann schließen sich auch die Mütter, die Schulkinder, die Bollywood-Schauspieler, die alten Männer den Aufrufen an. Was in Indien passiert, ist daher „eine gesellschaftliche Bewegung“, sagt Amitabh. Es gehe darum, welches Frauen- und Männerbild, welche Werte das Land vertritt, welche Freiheiten die Gesellschaft Frauen zugestehen will. „Die Männer müssen ihr Macho-Denken ändern“, sagt Amitabh.

Dem Staat wird Versagen vorgeworfen, die Mächtigen reagieren nervös. Noch immer sind Teile des Regierungsviertels in Delhi abgeriegelt, wimmelt es von Sicherheitskräften, setzt die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen Demonstranten ein.

Der Widerstand gegen einen Wandel ist groß, die reaktionären Kräfte sind stark. Das Mädchen „sei genauso schuldig wie seine Vergewaltiger“, verkündete der Guru Asaram Bapu, der hunderttausende Anhänger hat, ungeniert. Ganz im Geiste der Taliban will die südindische Stadt Pondicherry Schulmädchen künftig zwingen, sackähnliche Übermäntel ihren Schuluniformen überzustreifen, um – so die krude Logik – Jungen nicht zu Vergewaltigungen zu animieren.

Dennoch glaubt Amitabh, dass die Proteste „einen Wendepunkt markieren“, dass ein Anfang gemacht ist. „Vielleicht liegen wir bei vielem noch falsch“, sagt er. „Aber wir wollen dieses Land in Ordnung bringen.“ Dann zieht er seine Jacke an, schlingt den Schal um den Hals und macht sich auf zum Jantar Mantar.

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