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Panorama: Vor bald zehn Jahren fiel die Berliner Mauer. In New York stehen die Mauern noch.

Unsichtbar trennen sie Menschen und Stadtviertel - und bringen Ordnung in eine Welt, die jeden überfordert.Nadja Klinger Meine Beziehung zu Jerry gehört zu jenen Verhältnissen, die man nicht erklären kann.

Unsichtbar trennen sie Menschen und Stadtviertel - und bringen Ordnung in eine Welt, die jeden überfordert.Nadja Klinger

Meine Beziehung zu Jerry gehört zu jenen Verhältnissen, die man nicht erklären kann. Hätte mir jemand noch vor zwei Monaten in Berlin gesagt, ich würde jeden Morgen verrückt nach diesem Mann sein, wäre das nicht einmal als schlechter Witz durchgegangen.

Aber natürlich hätte mir das niemand vorausgesagt. In Berlin sind die Dinge auf eine bestimmte Weise klar: Die Stadt, in der man zu Hause ist, hat ihre Grenzen. Man weiß, wo sie anfängt und aufhört. Man kennt sich.

Damit habe ich aufgehört, kaum dass sich der Ozean zwischen Berlin und mir breit gemacht hatte: Ich kenne mich nicht mehr.

Scott, der ein waschechter Amerikaner ist, beugt sich zuweilen über den Tisch, hebt sein Bierglas ein Stück an und schwenkt es so lange, bis sich die gelbe Brühe um sich selbst dreht. "Jerry", murmelt er. "Was hast Du bloß mit dem?" Im Glas rotiert ein fader Rest von Schaum. Ich zucke mit den Schultern. Scott nimmt einen Schluck. "Dieser Typ ist nicht Amerika", sagt er und trinkt weiter. "Habe ich doch auch gar nicht gesagt", erwidere ich.

Er kippt das Bier in sich hinein, die letzten Reste zucken im Glas, ehe er sie verschluckt. Sein Kehlkopf rast auf und ab, als stünde er unter Strom. So verlaufen sie immer, unsere Jerry-Gespräche: Scott kämpft. Und meistens sieht er dabei unglücklich aus. Das tut mir Leid.

Also spreche ich von anderen Amerikanern. Von klugen Literaturprofessoren, die ihr Leben über den Dächern von SoHo verbringen, wo sie die ganze Welt in sich hineinlesen, und nachmittags herabsteigen in ein Café und bei Espresso und "cheese cake" stundenlang mit solcher Hingabe erzählen, als hätten sie die Hunderten von Geschichten selbst erlebt. Ich erzähle von der Fotografin, deren Bilder New York in warmen Farben zeigen, die wohl niemand außer ihr in dieser Stadt je gesehen hat. Ich nenne die verrückten russischen, portugiesischen, spanischen, chinesischen und englischen Schimpfwörter, die mir die amerikanischen Volleyballer auf dem Spielfeld beigebracht haben. Und berichte, wie herzzerreißend sich diese rauhen Männer nach jedem Gefecht miteinander versöhnen.

Ich schildere, wie die New Yorker sich nach Mitternacht verstohlen in der Kneipe umsehen. Sie tauschen Blicke aus, nicken sich zu und holen dann alle ihre Zigaretten heraus, um gemeinsam im No-Smoking-Bereich zu rauchen. Ich gestehe, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil der Pitcher von den "Mets" sich im alles entscheidenden Baseballspiel - nach über sechs Stunden grandiosem Kampf seiner Mannschaft - verworfen hat. Ich lasse ihn vor unseren Augen mit gesenktem Haupt vom Feld gehen, den armen Pitcher. Dann blicken Scott und ich an den grauen Himmel und vergewissern uns, dass Manhattan immer noch um die "Mets" weint.

Schließlich erwähne ich noch, dass Amerikaner schlecht einparken können, und je größer ihr Auto ist, um so kleiner das Gehirn; das aber ist nicht von mir, sie haben es selbst gesagt. Daraufhin bestellt sich Scott noch ein Bier, und wir einigen uns darauf, dass es hier - wie woanders - eben solche Menschen gibt und solche.

Mitunter aber blickt er mich auch zornig an, wenn er das erste Glas ausgetrunken hat. Dann weiß ich: Wir werden kämpfen. Scott verteidigt alle Amerikaner, um sich selbst zu verteidigen, und das tut er, indem er beweist, dass ein Amerikaner nicht wie der andere ist. Es ist ein verrückter Kampf, völlig uneinleuchtend, und ich habe Schwierigkeiten zu folgen. Sicherheitshalber gehe ich mit der größtmöglichen Härte ins Rennen. "Und was . . . ", frage ich spitz und lasse zwischen den Worten genug Zeit, in der mein Gegner in die Luft gehen kann, ". . . wenn Jerry nun doch Amerika ist?"

Sein vollständiger Name ist Jerry Springer. Er hat schütteres Haar, trägt farblose Anzüge und eine starke Brille. Man kann durchaus über ihn sagen, dass er hart arbeitet, beispielsweise steht er jeden Morgen auf, wenn es noch dunkel ist. Stunden später, da schließlich auch ich das Tageslicht erblicke, ist er schon mittendrin in den Niederungen des Alltags - er zieht sie förmlich an, sie sind sein Geschäft. Obgleich immer noch müde, springe ich aus dem Bett zum Fernseher. Denn jetzt beginnt seine Show.

Die einstündige Sendung läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Auf der Bühne stehen drei oder vier Stühle, auf dem ersten nimmt beispielsweise eine Frau Platz. Jerry steht irgendwo im Publikum und fragt sie, wie es ihr geht. Sie erzählt, dass sie verheiratet ist. Von ihrem Ehefrauendasein spricht sie dann aber nicht viel, dafür von dem zweiten Leben, das sie führt. Es ist eine Geschichte von Lügen und Betrug, die sie erzählt, von Affären mit Verwandten, besten Freunden des Gatten oder von irgendwelchen sexuellen Perversionen, von denen der Ärmste nicht einmal zu träumen wagt. Die Zuschauer kommentieren ihre Worte lautstark, der Showmaster wartet gelassen ein paar kleinere und größere Tumulte ab, und dann kommt der Ehemann. "Erzähl es ihm!", sagt Jerry zu der Frau.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann es aufgehört hat, dass mir nach wenigen Sendeminuten der Mund offen stehen blieb. Kann sein, dass Jerry mir den Verstand verdorben hat. Möglicherweise hat er ihn aber auch mit ein paar wichtigen Erfahrungen aufgebessert. Jedenfalls fühlte ich mich plötzlich gut. Der geschlossene Mund während der "Jerry Springer Show" war das Zeichen meiner Erlösung. Denn ich habe keine Fragen mehr gestellt.

Warum gehen Leute in eine Show, um sich in aller Öffentlichkeit erniedrigen zu lassen? Warum sehen ihnen andere jeden Morgen dabei zu? - Nicht dass ich derlei Fragen nicht noch hätte. Aber ich erwarte keine Antwort mehr. Jeden Morgen zwischen neun und zehn zeigt mir Amerika eines seiner Gesichter, und ich sehe hin. In der ersten Werbepause brühe ich mir einen Kaffee auf.

Es war Jerry, der mich in die Lage versetzt hat, mich in New York zu bewegen. Hier gilt es ständig, Mauern zu überwinden. Ich steige beispielsweise in einer der heruntergekommenen Ecken der Stadt hinab in die U-Bahn, bleibe drei, vier Stationen unter der Erde, und tauche an einem glänzenden, geputzten Ort, scheinbar in einer völlig anderen Welt, wieder auf. Oder ich gehe zu Fuß durch New York, und während ich laufe, wechselt immerzu Gestank mit Duft, verwandelt sich dunstiges Licht in Sonne, bis bald schon wieder selbst kleine Häuser finstere Schatten werfen. Eben war ich noch mitten in China, Asiaten wuselten durch die Straßen, dass mir schwindlig wurde. Ein paar Schritte weiter soll ich plötzlich spanisch sprechen, um einen Kaffee zu bekommen. Ich gehe nordwärts, und bald schon, als hätte jemand alle anderen Menschen aussortiert, sind jegliche Passanten so weiß wie ich.

Man kann sich nur zurechtfinden in New York, wenn man das alles eben nicht in Frage stellt. Aus der Hautfarbe der Menschen um mich herum schließe ich, wie teuer die Geschäfte in der Gegend sind. In den U-Bahn-Zügen, die durch alle Stadtteile fahren, kann ich zweifellos diejenigen erkennen, die nicht in Manhattan wohnen. New York ist durchzogen von Mauern, kreuz und quer. Auf den jeweiligen Seiten spricht man unterschiedliche Sprachen und lebt ein anderes Leben, man ist verschiedener Herkunft und hat vollkommen andere Aussichten.

Jeder New Yorker kennt die Mauern. Er überwindet sie wie die Volleyballer, die sich erbarmungslos die Bälle ins Feld knallen und sich unentwegt über den Spielstand streiten, wobei jeder die Punkte in der eigenen Sprache nennt: Steht es nun wosjem : three oder seven : tres? Oder der New Yorker überwindet die Mauern eben nicht, wie die zahllosen Taxifahrer. Sie kennen die Straßen nicht, in die der Kunde will, und sprechen auch nicht so viel Englisch, um das zugeben zu können.

Jedoch gibt es in dieser Stadt niemanden, der auf die Idee kommen würde, die Mauern etwa zu beseitigen. Im Gegenteil. Wer in Greenwich Village, dem beschaulichen "Dorf" in Downtown Manhattan lebt, fühlt sich in Chelsea, was fast schon Midtown ist, zuweilen wie ein Ausländer. Und die Stadtteile Brooklyn, Queens oder die Bronx sind für ihn so weit entfernt wie Zürich. Und wer einst von Russland aus in New York ankam und jetzt in einem der riesigen Wohnblöcke von Coney Island in Brooklyn am Ufer des Atlantik wohnt, lebt hier das Leben weiter, das er in der alten Heimat hatte. "Little Odessa" nennen die New Yorker diese ihnen fremde, heruntergekommene Siedlung. Viele von ihnen waren nie da.

"Und was, wenn Jerry nun doch Amerika ist?", fragte ich Scott neulich wieder. Wir saßen eben dort, in einem russischen Restaurant namens "Tatiana", am Strand. Scotts Gesicht verzog sich zur bekannten, leidvollen Miene. Aber es war nicht so klar, warum. Wegen meiner Frage? Oder weil er die Speisekarte nicht lesen konnte, auf der ausnahmslos alles in kyrillischen Buchstaben geschrieben stand? Die Kellnerin wartete schon eine Weile an unserem Tisch und sah uns gelangweilt an, weil wir nicht bestellten. Und als wir dann schließlich gegessen hatten und die Rechnung wollten - die in New York gewöhnlich sehr akribisch ausgestellt wird, damit der Kunde genau das übliche hohe Trinkgeld errechnen kann -, kam sie mit einem Stift und schrieb uns ein paar Zahlen auf den Tisch. "Rubel", sagte sie maulig. Obwohl sie natürlich Dollar haben wollte.

Vor ein paar Tagen habe ich - befreit von der fragenden und grübelnden Person, die ich in Berlin einmal war - die wohl verrückteste Entdeckung gemacht. Es war spätabends, ich saß in einem kleinen Jazzcafé in einer sehr noblen Gegend östlich vom Central Park, hatte schlaffe 60 Dollar Eintritt bezahlt und versuchte nun, mir ein Glas Rotwein für 18 Dollar über mehrere Stunden sorgfältig einzuteilen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Jerry Springer ist wie Woody Allen.

Nun ja, zunächst sehen sie sich nur ähnlich, der Showmaster und der Filmregisseur. Aber was war da noch? Ein Café, bis zum Rand mit Menschen gefüllt, die mehrere Gänge bestes Essen verzehrten, nicht Gläser, sondern zwei oder drei Flaschen Wein austranken und ausschließlich Designerware trugen. Die "Eddie Davis New Orleans Jazz Band" stimmte gerade ihre Instrumente. Sie hatte mit ihrem merkwürdigen Dixieland bereits eine Tournee durch die berühmtesten und größten Konzerthäuser Europas hinter sich und braucht sich in New York selbst bei teuren Eintrittspreisen um Publikum nicht zu sorgen: Und das nur weil Woody Allen, der im Moment noch auf sich warten ließ, die Klarinette spielt.

So saß ich dort, eingeklemmt zwischen all dem Reichtum, und sah in Gedanken Jerry Springer sein großes Fernsehstudio betreten. Das Publikum sprang auf, junge Leute in Jeans und T-Shirt klatschten mit ihren Händen einen Takt und riefen dazu: "Jerry! Jerry! Jerry!" Wie jeden Morgen. So lange, bis der Showmaster auf der Bühne angekommen war, unmerklich die Hand hob, und der Saal schlagartig verstummte. Dann gestand eine Frau ihrem langjährigen Ehemann, dass sie ebenso lange Jahre schon mit dessen Bruder schlief. Der Bruder kam herein, die Frau fiel ihm um den Hals, und der Ehemann ging auf die beiden los. Bodyguards sprangen herbei, hielten alle drei fest, man brüllte durcheinander, was ich leider nicht verstehen konnte, weil statt der Worte im Fernseher ein Piepton zu hören war. Erst die "Jerry!-Jerry!-Jerry!"-Rufe wurden wieder gesendet.

Die Frau zog ihren Stuhl zu dem des Bruders heran, der Ehemann zog ihn so heftig wieder zu sich zurück, dass seine Gattin zu Boden fiel. Daraufhin gingen die Brüder noch einmal aufeinander los, dass es im Fernseher nur so piepte. Jerry stand dabei, weniger den Tumult als die Studiouhr und seine Karteikarte im Blick. Wie einer, der dem Leben gern seinen Lauf lässt, solange das noch vor der Werbepause geschieht. Schließlich hob er die Hand, als könnte er zaubern: Stille. "Erzähl es ihnen", forderte Jerry die Frau auf. "Es tut mir so Leid", sagte die und zeigte zur Tür, durch die gerade eine Blondine kam, mit beiden Händen das Victory-Zeichen formend. "Es tut mir so Leid, aber ich schlafe auch noch mit ihr."

Während der Werbepause sah ich in Gedanken Woody Allen durch seine Filme gehen. Durch die kleinen Straßen Manhattans, in denen Treppenaufgänge zu den Haustüren führen, wo er schon mit der einen oder anderen Frau saß, das Fastfood in der Papiertüte wurde kalt und Woody von den Hoffnungen und Abgründen der Liebe verzehrt. Ich sah ihn vor der Skyline mit den Wolkenkratzern im Regen sinnieren, gebückt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen, so wie es manchmal die einzige Möglichkeit ist, durchs Leben zu kommen. Ich spürte seine in jedem Film anwesende Furcht vor der Endlosigkeit New Yorks, die genauso groß ist wie die Angst, das unermessliche Manhattan etwa einmal verlassen zu müssen.

Und ich erkannte die feinen, mit Erfolg gesegneten Leute aus dem Publikum im Jazzcafé wieder, hatte sie in Allens Filmen schon gesehen, nicht gerade in sympathischen Rollen. Jetzt warteten sie auf ihn und stießen, anstatt unruhig zum Eingang zu sehen, mit den Gläsern an. Irgendwann ging die Tür auf, gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, kam Woody Allen zu seinem Stuhl, setzte sich hin, packte die Klarinette aus und begann zu spielen. Wir klatschten alle wie wild. Niemand hatte auch nur einmal "Woody!" gerufen. Aber alle himmelten wir ihn an. Und ich hörte Scott, wie er irgendwo in meinem Hinterkopf sagte: "Woody Allen, das ist eben Amerika."

In den zahllosen Kramläden New Yorks gibt es T-Shirts, auf denen der Showmaster abgebildet ist. "Jerry Springer - serial killer", steht unter seinem Kopf. Es ist nur eines von Hunderten von Pullovern, auf denen Musiker, Schauspieler, Boxer, Baseballspieler, Pornostars, Comicfiguren, Filmszenen, sexuelle Anzüglichkeiten, der nackte Präsident oder die amerikanische Fahne verewigt sind. Die Stadt, in der ich nicht zu Hause bin, ignoriert auch hier jegliche Grenzen.

Mit wem man auch ins Gespräch kommt, die New Yorker wollen nach Berlin. Sie können das nicht erklären, zucken mit den Schultern, reden davon, dass dort jetzt "etwas passiert", und zwar drücken sie das immer so aus, als seien es letztlich die Amerikaner gewesen, die vor zehn Jahren die Mauer umgestoßen haben. Die einzige klare Aussage, mit der sie das Geschehen in der Stadt zusammenfassen, lautet: "Berlin ist sexy."

Und weil ich dann jedesmal das Gesicht verziehe, fragen sie mich, was ich denn von New York in Erinnerung behalten werde. Ich rede irgendwas von den Mauern, die überall das Leben begrenzen und die dem Einzelnen sein Dasein in der Achtmillionenstadt überhaupt erst möglich machen. Dann merke ich wieder mal, dass ich mich nicht mehr kenne. "Jerry", sage ich. Jerry finde ich sexy. © 1999

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