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In Hamburg findet der erste Prozess gegen Seeräuber seit 400 Jahren statt.

© dpa

Vor Gericht: Piratenprozess: Ende einer Kaperfahrt

Es war 8 Uhr 30, da enterten Piraten die MS Taipan. Und dachten schon, sie hätten gewonnen. Doch der Kapitän ließ sie in die Falle gehen. Jetzt stehen zehn Somalier in Hamburg vor Gericht. Es ist der erste Prozess gegen Seeräuber seit 400 Jahren.

Auf offenem Meer gibt es kein Versteck. Wer nicht abhauen kann, weil er das langsamere Schiff hat, der ist dran. So lautet seit Jahrhunderten die einfache Regel auf See. In den Gewässern vor der somalischen Küste ist das immer noch so, wo sich Piraten in kleinen Booten auf der Jagd nach dem Reichtum der industrialisierten Welt auf die Lauer legen. Der fährt in riesigen Stahlkolossen an ihrer Küste vorbei. Am 5. April dieses Jahres sollte es die Taipan erwischen.

Da befindet sie sich 530 Meilen von Somalia entfernt, es ist Ostermontag früh am Morgen. Kapitän Dirk Eggers bemerkt einen Fischkutter, der seinen Kurs ständig ändert und näher kommt. Plötzlich lösen sich zwei offene Kunststoffboote von dem Gefährt und preschen mit Außenbordern auf das deutsche Handelsschiff zu. Die See ist spiegelglatt, ideal für den Angriff der mit 22 Knoten über die Dünung fegenden „Speedboats“. Es ist 7 Uhr 50. Die Taipan der Hamburger Komrowski-Reederei ist auf dem Weg von Dschibuti nach Mombasa und hat Container geladen. Eggers versucht, die Angreifer mit Signalraketen zu beeindrucken, doch die eröffnen das Feuer, sogar eine Panzergranate meint der Kapitän am Brückenhaus vorbeifliegen zu sehen. Als sie den Frachter um 8 Uhr 30 erreichen und entern, sieht es so aus, als machten sie leichte Beute. Von der Mannschaft kommt keine Gegenwehr mehr. Sie hat die Sache mit dem Versteck noch einmal überdacht.

Die Piraten sitzen in der Falle, sie wissen es nur noch nicht.

Wann sie es begriffen haben und ob sie je das Weltrechtsprinzip verstehen werden, das sie aus ihrer Welt gerissen und 6500 Kilometer weit entfernt in einen nüchternen deutschen Gerichtssaal geführt hat, ist ihren verschlossenen Gesichtern sieben Monate später nicht zu entnehmen. Über sie, die mutmaßlichen Piraten, richtet die Welt. So hat es schon Cicero gesehen, als er ihresgleichen als „gemeinsamen Feind aller Menschen“ bezeichnete. Es war ein großes, mächtiges Feindbild. Die Wirklichkeit sieht weniger bedrohlich aus, als sie in Daunenjacken, weißen Hemden, Trainingsanzügen und Sweatern in den Saal 337 des Hamburger Landgerichts schlendert. Dort hat am Montag der Prozess gegen zehn Somalier begonnen, angeklagt wegen Angriffs auf den Seeverkehr und erpresserischen Menschenraubs. Hagere Männer treten ein, mit einer Haut so dunkel, dass sie das Licht zu absorbieren scheint, in dem sie jetzt stehen.

Zum ersten Mal seit 400 Jahren findet an der Elbe wieder ein Piratenprozess statt. Die Pressebänke im Saal sind voll besetzt. Die Zuschauer auf den Sitzreihen dahinter, durch eine Glasscheibe vom Geschehen getrennt, rücken eng zusammen. Und jeder Angeklagte wird von zwei Verteidigern in schwarzer Robe in Empfang genommen, behutsam, als müsste selbst das nüchterne Ambiente erst erklärt werden.

Eine besondere Spannung liegt über der Eröffnung der Hauptverhandlung. Es gibt viele offene Fragen. Sie werden die auf Verkehrsdelikte spezialisierte Strafkammer an Grenzen bringen. Hier steht nicht eine kriminelle Vorstadtbande vor Gericht, die vor ihrem Raubzug wissen kann, wie bewaffnete Überfälle bestraft werden. Es sitzen Gesetzlose da, die es sich nicht ausgesucht haben, in einem Staat ohne Recht zu leben. Aber wie leben sie?

Er kam in der Regenzeit zur Welt, sagt er. Ausweise gibt es nicht

Normalerweise verbirgt sich die Antwort auf diese Frage in dünnen Floskeln, die in politischen Dossiers und Studien etwa des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit vom „failed state“, vom gescheiterten Staat, berichten. Hier aber wird das oberflächliche Bild mit Fakten und Erfahrungen gefüllt. Schon die Frage nach den Personalien gerät zum Abenteuer. „Ich bin unter dem Baum geboren“, sagt einer über sein Alter. Ein anderer weiß, dass er „in der Regenzeit vor 24 Jahren“ zur Welt kam, in einem Ort, den keine Landkarte verzeichnet. Ihre Namen setzen sich aus den Namen ihrer Väter und Großväter zusammen, der Älteste datiert seine Geburt auf das Jahr 1962, der jüngste soll 1997 geboren worden sein, was ihn zu einem strafunmündigen Jugendlichen machen würde. Ausweispapiere gibt es nicht.

Tatsächlich ist vieles verdreht in diesem Prozess. So sind es diesmal nicht die Opfer, sondern die mutmaßlichen Täter, die eine Odyssee hinter sich haben.

Das Unheil für sie kündigt sich schon Minuten nach der Kaperung mit einem Brummen an. Am Himmel nähert sich ein Aufklärungsflugzeug der Deutschen Marine vom Typ Orion und beginnt, das Schiff zu umkreisen, während die Angreifer plündernd durch die Mannschaftsunterkünfte ziehen. Die Crew hat einen Notruf abgesetzt und sich in einen sogenannten Panic Room zurückgezogen, um nicht als Geisel genommen zu werden. In einer kleinen, mit Matratzen notdürftig gepolsterten Kammer tief im Inneren des Schiffsbauchs harrt sie der Dinge. Der Zugang ist mit einer Stahlplatte verschlossen, Nahrung und Trinken vorhanden. Als die Piraten oben auf der Brücke einen neuen Kurs steuern, unterbricht Kapitän Eggers die gesamte Energieversorgung, die Falle schnappt zu.

Im Komrowski-Hauptquartier ist man später beeindruckt von der Umsicht des 67-Jährigen. Er gilt als ausgesprochen erfahren und als ein Seemann, der für gewöhnlich viele Monate nicht an Land zurückkehrt. Bis heute hat er sich öffentlich nicht geäußert. An der Bordwand hatte er Stacheldraht befestigen lassen. Zwar hatte die Reederei dem Kapitän vor Antritt der Reise die Einrichtung eines Schutzraums nahegelegt, doch musste er selbst Fantasie entwickeln, wo dieser sich befinden und wie er ausgestattet sein sollte. Davonfahren konnte er seinen Häschern mit 17 Knoten Maximalgeschwindigkeit nicht, er reagierte schnell und so, dass seine eigenen Leute wussten, worauf es ankam. Sie mussten es unbedingt alle in den Fluchtraum schaffen.

Seit Jahren schon diskutieren Reeder, ob ein solcher Schritt sinnvoll ist. Mehrere Milliarden Euro soll die Piraterie am Horn von Afrika die Weltwirtschaft bereits gekostet haben. Und die Lösegeldforderungen steigen rapide an. Noch 2008 bezahlte die Beluga-Reederei aus Bremen 1,1 Millionen Dollar, um den Schwergutfrachter BBC Trinidad frei zu bekommen. Zwei Jahre später wird von Somalis das Zehnfache verlangt.

Der finanzielle Schaden durch Lösegeldforderungen beläuft sich allerdings hierzulande bislang auf nicht viel mehr als drei bis vier Millionen Euro. Das ist wenig für die drittgrößte Handelsflotte der Welt. Niemand werde „aus dem Geschäft gedrängt“, dämpft Verbandssprecher Max Johns das Szenario. So scheut man bei nur einem halben Dutzend Entführungen deutscher Schiffe den dauerhaften Mehraufwand an eigenem Personal, Ausbildung und zusätzlichen Versicherungspolicen, den eine höhere Sicherheit mit sich brächte. Lieber fordert der Verband Deutscher Reeder im Oktober 2010 den Einsatz sogenannter „Vessel Protection Teams“, der einer Bewaffnung der zivilen Schifffahrt gleichkommt. Kleine Einheiten von Marinesoldaten oder Bundespolizisten würden von den Handelsschiffen aus Angreifer abwehren. Und sei es durch ihre bloße Präsenz. Es sei „nicht zu vermitteln“, heißt es, „dass die Marine operativ einen solchen Schutz bieten könnte, rechtlich aber nicht darf, während die Bundespolizei rechtlich dürfte, aber operativ allein nicht kann.“

Deutsches Recht im Indischen Ozean? Der Prozess eine Farce?

Die Bundesregierung ist wenig begeistert. Sie unterhält drei Kriegsschiffe vor Ort und bietet Geleitschutz. Wie würde der Steuerzahler es finden, schwimmende Kapitalanlagen auch noch mit einer Art staatlichen Securityservice zu unterstützen? So bleibt die Nachrüstung der zivilen Schifffahrt mit Schutzräumen ein provisorischer Notbehelf. „Das Konzept hilft nur, um Zeit zu gewinnen, wenn jemand in der Nähe und bereit ist, an Bord zu gehen“, sagt Max Johns vom VDR.

Für die 15 Männer im Inneren der Taipan beginnen bange Stunden. Eine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren, gibt es für sie nicht. Über ihren Köpfen geht die Einrichtung zu Bruch. Sie werden gesucht, für die Piraten sind sie das Faustpfand. Vielleicht wollen die sich auch bereits wieder absetzen, als kurz darauf ein niederländischer Sea Lynx-Helikopter eintrifft. Das ist die Vorhut.

40 Meilen entfernt hat die Fregatte Hr. Ms. Tromp den „Distress Call“ der MS Taipan aufgefangen. Sie und die deutsche Orion-Crew waren seit dem Vortag auf der Suche nach einer Dhau gewesen, von der es hieß, dass sie entführt worden war. Nun dümpelt das Fischerboot in der Nähe des Frachters, die Piraten haben es als Mutterschiff für ihre Operation benutzt und versuchen jetzt, es längsseits gehen zu lassen. Auf die Forderungen der Marineflieger, sich mit der Dhau zurückzuziehen, reagieren sie nicht. Da greift die Tromp zum ersten Mal ein. Mindestens einen Warnschuss feuert das Kriegsschiff mit seiner Bordkanone ab, obwohl es selbst noch außer Sichtweite ist. Die Zielkoordinaten dafür werden ihr von der Orion übermittelt. „Moderne Kriegsführung“, sagt ein niederländischer Marinesprecher dazu.

Es ist der Triumph der überlegenen Technik vor der archaischen Gewalt der Gesetzlosen, als welche Diebe zur See gelten. Und es folgt, was sich seitdem mehrfach wiederholen sollte, an Bord der Magellan Star und zuletzt auf der Beluga Fortune: Ein Boarding-Team begibt sich schwer bewaffnet auf das entführte Schiff, die Piraten ergeben sich.

Und plötzlich hat man es mit gewöhnlichen Straftätern zu tun und Fragen wie der persönlichen Schuldfähigkeit der Angeklagten, die von so einem Begriff vielleicht noch nie gehört haben. Ob es sich bei dem Piratenprozess von Hamburg deshalb um eine Farce handelt, wie ein Verteidiger sagt, weil es „schräg“ sei, deutsches Recht auf den indischen Ozean anzuwenden, oder ob es darum geht, „Verantwortung im Kampf gegen internationale Piraterie zu übernehmen“, wie ein Sprecher des Gerichts behauptet, wird sich erst zeigen. Aber schon zum Auftakt deutet sich ein zähes Ringen an. Die Verteidigung will zeigen, dass dem Gericht schlicht die Kategorien fehlen, um die Lebenssituation der Angeklagten zu beurteilen.

Dafür dient zum Auftakt die banale Frage, ob ein Junge, der behauptet 13 Jahre alt zu sein, was afrikanische Dokumente sogar belegen, nicht auch als 13-Jähriger gelten muss. Deutsche Ärzte haben ihn mal auf 18, niederländische auf 15 Jahre geschätzt, was an sich bereits viel über die Zuverlässigkeit medizinischer Altersbestimmungen aussagt. Abdul Kadir Achmed W. passt einfach nicht ins Bild. Es gibt keinen Vergleich für ihn.

So haben seine Anwälte die Einstellung des Verfahrens gegen ihn beantragt. Man werde ihn ja wohl nicht, wie es das Jugendstrafrecht vorsieht, erziehen wollen, sagen sie. Und es kommt schon mal vor, dass der zierliche Junge zittert und weint. So was hat er nicht gewollt. Das hat er sich nicht einmal vorstellen können.

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