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Panorama: Wer war Cho Seung-Hui?

Universität und Polizei müssen sich fragen lassen, warum sie die Anzeichen für kommendes Unheil nicht richtig gedeutet haben

Im Nachhinein erscheint er vielen wie eine Bombe, die jeder Zeit hochgehen konnte. Nur, dass die meisten glaubten, Cho Seung-Hui würde seine Wut und seine Hilflosigkeit gegen sich selbst richten, nicht gegen andere. „Er war so depressiv“, erinnert sich Lucinda Roy, seine Englisch-Professorin an der Virginia Tech University, „wenn er einen Raum betrat, brachte er eine dunkle Wolke mit sich. Ich hatte Angst, er könnte Selbstmord begehen.“

Eine folgenreiche Fehleinschätzung des 23 Jahre alten Außenseiters, der bei seinem Amoklauf am Montag in Blacksburg im US-Bundesstaat Virginia 32 Menschen erschoss, ehe er sich selbst tötete.

Wer genau war Cho Seung-Hui, was trieb ihn, und hätte die Gefahr, die von ihm ausging, im Voraus erkannt werden können? Diese Fragen stellen sich viele am Tag drei nach dem blutigsten Amoklauf in der Geschichte der USA. Mit einem Gedenkgottesdienst in der Sporthalle, an dem auch Präsident George W. Bush und seine Frau Laura teilnahmen, und einer Lichterkette später auf dem Campus hatten sie am Dienstag der Toten gedacht. Sie hielten sich in den Armen, weinten, sangen Lieder. Hin und wieder brüllten sie im Chor: „Hokies! Let’s go Hokies.“ Hokie ist das Schul-Maskottchen. Mit ihrem Ritual schrien sie sich ihre Wut heraus, ihre Angst und ihre Ohnmacht.

Mehr als 25 000 studieren an der Universität in dem 40 000-Einwohner-Städtchen Blacksburg in den idyllischen Blue Mountains, viele pflegen enge soziale Kontakte. Nicht so Cho. Ein Mitglied der Gemeinschaft wollte er nie werden. Kommilitonen erinnern sich, wie er sich in der Mensa stets an einen eigenen Tisch setzte. Wie er mit seinen Mitbewohnern nur das Nötigste besprach und in den Seminaren hinten in der Ecke saß, seine Sonnenbrille aufgesetzt. Die Fragen der Professoren beantwortete er mit Schweigen, auf sein Namensschild malte er nur ein Fragezeichen.

Mit dem, was er in seinem CreativeWriting-Seminar zu Papier brachte, ängstigte er seine Mitstudenten im Herbst 2005 so sehr, dass die meisten eines Tages nicht mehr auftauchten. Die Professorin verwies Cho daraufhin der Klasse und vermittelte ihn an ihre Vorgesetzte, Lucinda Roy. Die beriet sich mit der Campus-Polizei und dem psychologischen Dienst der Universität, doch niemand sah eine Möglichkeit einzugreifen. Schließlich war das einzige Vergehen des Englisch-Studenten seine Unwilligkeit, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Roy gab ihm daraufhin Einzelunterricht. „Ich bin eine Lehrerin“, sagt sie heute, „ich habe die Pflicht, allen zu helfen, ob ich sie mag oder nicht.“

„Wir haben darüber Witze gemacht, dass wir darauf warten, dass er eines Tages etwas tut“, sagt seine Klassenkameradin Stephanie Derry. Ein anderer, Ian MacFarlane, erinnert sich: „Seine Theaterstücke lasen sich wie etwas aus einem Albtraum. Sie waren voller verdrehter, makabrer Gewalt.“ Angriffe mit Kettensägen zum Beispiel. Am Montag allerdings, an dem Tag seines Amoklaufes, verwendete er zwei ganz ordinäre Pistolen, legal erworben, ein paar Wochen vorher. Die eine, eine Walther Kaliber 22, kaufte Cho von einem Leihhaus in Blacksburg am 9. Februar. Die andere, eine Glock 19, am 16. März bei „Roanoke Firearms“, einem Waffengeschäft im nahen Roanoke. Er musste lediglich seinen Führerschein vorweisen und inklusive Munition 571 Dollar zahlen. Geschäftsinhaber John Markell sagt: „Er war ein netter, geradliniger College-Junge.“

Warum sie die Zeichen nicht richtig deuteten, müssen sich auch die Universitätsleitung und die Campus-Polizei fragen lassen. Virginias Gouverneur Tim Kaine setzte eine unabhängige Untersuchungskommission ein, warnte aber gleichzeitig vor der Politisierung des Falles: „Ich verachte alle, die das versuchen.“ Zu klären ist vor allem, warum zwei Stunden verstrichen, ehe die Universität die Studenten über die Morde im Studentenwohnheim informierte. Weitere wertvolle Zeit verging, ehe sie den Campus schloss. Da hatte Cho sein mörderisches Werk schon fortgesetzt. Die Polizei ging offensichtlich zunächst davon aus, dass es sich bei den ersten beiden Morden um ein Eifersuchtsdrama handele, und suchte nach einem Verdächtigen außerhalb des Campus’.

„Wir wissen nicht, was in ihren Köpfen vor sich ging“, sagt Katherine Andriole von der Organisation „Security on Campus“, „aber vielleicht hatten sie auch Angst um ihr Image.“ Der Campus war im vergangenen Jahr geschlossen worden, nachdem ein entflohener Häftling in der Nähe zwei Polizisten erschossen hatte. Anfang des Jahres hielten die Studenten zwei Bombenwarnungen in Atem. Auch am Dienstag gab es wieder Minuten der Besorgnis. Am Vormittag rückten Sondereinheiten an und umzingelten den Sitz des Uni-Präsidenten wegen „verdächtiger Aktivitäten“. Ein Fehlalarm. Im ganzen Land liegen die Nerven an den Schulen und Universitäten blank. Auf dem Campus in Virginia haben sie ein improvisiertes Mahnmal errichtet. Auf einem der Stücke steht: „Unsere Herzen werden schwer sein, unsere Tränen werden fallen und unsere Fragen werden niemals beantwortet werden.“

Einige vielleicht doch. Die Polizei gab am Mittwoch zu, dass der Täter ihnen bekannt war. Zwei Studentinnen hatten über sexuelle Belästigung geklagt. Er wurde zur psychiatrischen Behandlung eingewiesen, machte die Therapie dann aber freiwillig. Warum? Wer gegen seinen Willen in psychiatrischer Behandlung war, darf keine Waffen kaufen.

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