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Panorama: 20 Kniebeugen für Deutschland

Unser Autor wird gemustert – ein aufschlussreicher Morgen im Kreiswehrersatzamt

Zur Bundeswehr wollte ich nie. Schon als ich zwölf Jahre alt war, habe ich gehofft, dass die Wehrpflicht rechtzeitig abgeschafft wird. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich mit 30 Kilo Gepäck auf dem Rücken durch den Wald rennen sollte. In Sport war ich ziemlich schlecht.

Mittlerweile freue mich zwar auf jede Sportstunde, aber meine Einstellung zur Wehrpflicht hat sich nicht verändert. Deswegen hat es mich auch geärgert, dass ich vor einem Jahr einen Brief vom Kreiswehrersatzamt bekommen habe. Ich sollte Deutschland meinen Dienst erweisen! Mit der Schulbescheinigung bis 2006 konnte ich diesen Dienst zwar noch etwas hinauszögern, vergessen wurde ich aber leider nicht. In den Ferien kam wieder ein Brief, diesmal gab es keine Ausreden mehr. Ich musste zur Musterung. Dieser Tag sollte also über die neun Monate nach meinem Abi entscheiden.

Um acht Uhr stand ich vor dem Kreiswehrersatzamt in der Oberspreestraße. Eine hohe Mauer umgibt das gesamte Gelände, das grüne Tor stand sperrangelweit offen. Auf einem Schild steht: „Unbefugten ist das Betreten des Geländes untersagt.“ War ich befugt? Eindeutig. Die Straße führt an Plattenbauten vorbei, die durch Stahlbrücken miteinander verbunden sind. Undefinierbare, verrostete Metallgebilde stehen auf dem Rasen herum. Hinweisschilder suchte ich vergebens. Gerade als ich dachte, das Gelände sei total verlassen, hielt ein Polizeiwagen einige Meter die Straße runter. Zwei Beamte stiegen aus. Auf der Rückbank saß eine weitere Person, die von den Polizisten in das Gebäude gebracht wurde. Es war ein Junge mit schwarzer Lederjacke und weißem Basecap. Er schlich den Beamten lustlos hinterher. Plötzlich war ich froh, dass ich hergekommen war. Wenige Tage zuvor hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, den Termin einfach zu ignorieren. Ich hatte nicht damit gerechnet, auch wenn es in dem Brief stand, dass sie wirklich die Polizei holen. Wenigstens musste ich jetzt nicht mehr den Eingang suchen. Die Polizisten brachten den Jungen hinein und ich lief einfach hinterher. Sie nahmen dann den Aufzug, ich benutzte lieber die Treppen. Den Jungen habe ich seitdem nie wieder gesehen, obwohl mir ansonsten jeder andere, dem ich während meiner Zeit dort begegnete, mehrmals über den Weg lief.

Nachdem ich zwei Stockwerke überwunden hatte, erreichte ich die Tür mit der Aufschrift „Musterung“. Ich trat ein. Das Erste, was mir auffiel, war der hellgrüne, mit braun-gelben und dunkelgrünen Punkten verzierte Tarn-Teppichboden. Guckt man den mehr als fünf Sekunden beim Laufen an, wird einem schlecht. Die Räume sind alle nur durch Glasscheiben voneinander getrennt. Da sieht man wenigstens gleich, was einen erwartet. Ich stand direkt vor dem Anmelderaum. Fünf Jungs saßen um einen Fernseher und warteten. Ein weiterer saß hinter einer Männerzeitschrift versteckt etwas abseits. Im Fernseher lief ein Bericht über die Nasa. Plötzlich forderte mich eine Stimme auf, näher zu treten. Als ich herumfuhr, sah ich gerade noch, wie der Mann abseits der Gruppe die Zeitschrift weglegte. Eine Uniform kam zum Vorschein. Er gab mir einen Zettel, auf den ich meine Personenkennziffer schreiben sollte und sagte, dass ich mich damit einen Raum weiter melden müsse. Dann schob er die Nase wieder in seine Lektüre.

Ich ging ein Zimmer weiter, zwei Frauen standen hinter einem Tresen und lächelten mich freundlich an. Ich gab ihnen meinen Zettel, eine setzte sich damit an den Computer, tippte einige Minuten herum und gab mir den Zettel mit einem Kürzel wieder: „Setzen Sie sich in den Warteraum gegenüber!“ Wieder ging ich von einem Zimmer in das nächste. Viele gemütliche Sessel standen dort herum. Auf dem Tisch lagen Bundeswehrprospekte. Gerade als ich mich auf einem längeren Aufenthalt einstellte und tiefer in den Sessel sank, öffnete sich eine Tür. Ein Frauenkopf erschien und rief meinen Namen. Ich stand auf und begab mich mal wieder einen Raum weiter. Die Frau strahlte und bot mir einen Stuhl an.

„Könnte ich bitte Ihren Laufzettel haben?“

„Meinen was?“

„Ihren Laufzettel! Das Stück Papier, auf dem wir die Kürzel machen. Das zeigt Ihnen und uns, wo Sie schon waren und wo Sie noch hinmüssen.“

Als die Frau merkte, dass mir noch niemand erklärt hat, was mich an diesem Tag erwartete, hörte sie nicht mehr auf zu reden. Zwischendurch fragte sie nach Personalausweis und Führerschein und ob ich den Wehrdienst ableisten wolle oder lieber Zivildienst machen würde. Nach meiner Antwort bekam ich ein Informationsblatt zur Kriegsdienstverweigerung. Sie unterschrieb auf dem Laufzettel. Dann gaben mir die zwei Frauen hinter dem Tresen im Austausch gegen meinen Personalausweis einen Schlüssel für einen Schrank in der Umkleide. Also begab ich mich zur medizinischen Abteilung. Mit Badehose und Flip-Flops bekleidet ging es dann in den nächsten Warteraum. Mit mir saßen noch sieben andere Jungs auf unbequemen Plastikstühlen. Obwohl ich der letzte war, der hereinkam, wurde ich als erster aufgerufen. Ich musste in das Labor eins. Dort erwartete mich schon eine in weiß gekleidete Frau. Zuerst gab ich ihr eine Bescheinigung meines Arztes wegen meiner Allergie gegen verschiedene Pflanzen und Nahrungsmittel.Danach wurde ich gemessen und gewogen. Dann drückte sie mir einen Becher in die Hand. „Urinprobe“, sagte sie. Ich ging auf die Toilette. Es hätte mir auch ruhig jemand sagen können, dass so etwas kommt. Dann wäre ich nicht schon eine halbe Stunde vorher hier gewesen und schon gar nicht ohne Becher. In der Kabine neben mir schien es besser zu laufen. Auch der Nächste, der fünf Minuten später hereinkam, hatte keine Probleme. Irgendwann klappte es auch bei mir und ich durfte wieder in den Warteraum. Diesmal musste ich allerdings viel länger warten, bis ich wieder aufgerufen wurde. Ich sollte in den ärztlichen Dienst. Dort wurde ich ausgiebig untersucht – die größte Zeitverschwendung überhaupt. Ich trage eine Brille und musste trotzdem ohne sie einen Sehtest machen. Daraufhin sollte ich 20 Kniebeugen machen. Davor und danach wurde mein Puls gemessen. Dann ging die Fragerei los: Nein, Probleme mit meinen Hoden habe ich keine. Auch Drogen nehme ich nicht. Mit vielen Erkenntnissen über meinen Körper, wie etwa, dass mein linker Brustmuskel stärker herausgebildet ist als mein rechter, verließ ich dann den ärztlichen Dienst.

Umgezogen ging ich wieder zu den zwei Tresenfrauen. Ich gab ihnen meinen Laufzettel, der jetzt noch zwei Unterschriften mehr hatte und den Schlüssel. Ich sollte in den benachbarten Raum gehen und dort auf den Wehrdienstbeauftragten warten. Es war der Fernsehraum vom Beginn meiner Odyssee. Der junge Mann las immer noch in der Männerzeitschrift. Im Fernsehen lief die „Bill Cosby Show“. Ein weiteres Mal saß ich lange herum, bis ich aufgefordert wurde, mich noch einmal in der medizinischen Abteilung einzufinden. Ich sollte eine Blutprobe abgeben, da sie überprüfen wollten, wie stark meine Allergie ist. Es brauchte einige Versuche, bis die Schwester meine Vene traf. Und so ging ich zerstochen und mit Pflastern am Arm zur Zahlstelle. Ich bekam mein Fahrgeld zurück und durfte endlich gehen. Es war zwölf Uhr mittags. Vier Stunden meines Lebens hatte ich an der Oberspreestraße vergeudet. Als ich das Gelände verließ, fuhr ein Pizzaservice durchs Tor.

Max hat gestern ein Einschreiben bekommen. Er ist „T2“ gemustert, also ziemlich fit und tauglich.

Max Anders

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