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Panorama: Ankommen in der Fremde

Vor zwei Monaten hat unsere Autorin Eva Hoffmann ihre Heimatstadt Berlin verlassen, um in Freiburg zu studieren. Über ihre ersten Wochen fernab von Eltern, Geschwistern und Freunden hat sie für uns Protokoll geführt.

DER ABSCHIED

Der lang ersehnte Moment ist gekommen: Nach 19 Jahren Elternhaus wage ich den Sprung in die Unabhängigkeit und ziehe zum Studieren von Berlin nach Freiburg. Im Rückspiegel meines vollgepackten Autos schrumpft der Fernsehturm auf Ameisengröße. In die Vorfreude mischen sich leise Zweifel. Ist es klug, die aufregendste Stadt Deutschlands gegen die westdeutsche Provinz und ein kleines Wohnheimzimmer zu tauschen? Sicher bin ich mir gerade nicht, aber daheim wurde es in letzter Zeit einfach zu eng. Und um sich von seinen Eltern abzunabeln, ist weit wegziehen die einfachste Lösung. Nach acht Stunden Autofahrt wird mir bewusst, dass Berlin wirklich sehr weit weg ist. 800 Kilometer, um genau zu sein. Da kann man nicht mal eben schnell bei Mama zum Essen einfallen. Gut so.

DIE ANKUNFT

In Freiburg scheint angeblich immer die Sonne, nur heute, am Tag meiner Ankunft, hat sie darauf offenbar keine Lust. Im Aufenthaltsraum des Studentenwohnheims sitze ich ratlos auf meinen unausgepackten Kisten. Ich vermisse mein Berliner Altbauzimmer mit dem Stuck an der Decke, dem Dielenboden und den großen Fenstern jetzt schon. Aber ich will nicht jammern, mein neues Reich ist akzeptabel. Trotz Linoleumbodens. Es hätte schlimmer kommen können: Angeblich gibt es hier Studenten, die in Turnhallen campen, weil es nicht genug Unterbringungen gibt.

DIE EINGEWÖHNUNG

Im Kühlschrank (genauer: im darin für mich vorgesehenen Fach) herrscht gähnende Leere. Ich muss dringend einkaufen. Leider fällt mir das erst nach Ladenschluss ein, weshalb ich in Gedanken den Berliner Spätkauf hochleben lasse. Egal. So habe ich nun einen Grund, mich bei den Nachbarn vorzustellen und diese auf ihre Wohltätigkeit zu testen. Als ich erwähne, dass ich aus Berlin komme, ernte ich mitleidige Blicke und bekomme eine Packung Nudeln in die Hand gedrückt. Am Abend gucke ich „Tatort“ und denke daran, wie ich daheim meine Familie immer davon abhalten musste, Tipps zum Mörder abzugeben. Die sonst so nervigen Kommentare fehlen mir an diesem Sonntagabend. Mit knurrendem Magen stehe ich am nächsten Morgen auf. Der Kühlschrank hat sich über Nacht leider nicht auf wundersame Weise gefüllt. Im Vorfeld meiner Umzugsvorbereitungen hat mir meine Mutter immer eingebläut, bezüglich der Lebensmitteleinkäufe für mehrere Tage zu planen. Das sei günstiger. Die kommende Woche wird es ausschließlich Lieblingsgerichte aus frischen Zutaten geben, wenigstens nehme ich mir das vor. Doch als ich im Supermarkt vor den Dosenravioli und Tütensuppen stehe, werfe ich meinen detaillierten Kochplan über den Haufen. Die Aussicht, in der Gemeinschaftsküche stundenlang am Herd zu stehen, ist wenig verlockend.

DER UNI-ALLTAG

Ich bin nun also offiziell Studentin der Medienkulturwissenschaften und Europäischen Ethnologie. Klingt kompliziert, wird es aber hoffentlich nicht sein. Der Status des Erstis ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen schwärmen, das erste Semester sei die tollste Zeit während des gesamten Studiums. „So viele Partys gibt es nie wieder“, sagt eine Kommilitonin beim gemeinsamen Kaffee. Man erntet als Anfänger aber auch genervte Blicke, die an die Schulzeit erinnern, als man sich in der Oberstufe von den uncoolen Fünftklässlern auf dem Pausenhof belästigt fühlte. Wie in der Schule herrschen auch an der Uni ungeschriebenen Regeln, die man erst mit der Zeit lernt. Applaus nach einer Vorlesung ist zum Beispiel verpönt, stattdessen wird auf die Tische geklopft. Meiner Meinung nach vermittelt das aber viel weniger Anerkennung, aber nach meiner Meinung fragt mich hier niemand, zumindest nicht bei diesem Thema. Freunde aus Berlin schreiben mir, dass bei ihnen die Unis so überfüllt sind wie noch nie. Ich kann sie trösten: Im Süden ist es nicht besser. Wer zu spät kommt, muss auf der Treppe sitzen; wer zu früh kommt, muss gezwungenermaßen mit dem Prof plaudern. Spontan erkläre ich den Dienstag zu meinem neuen Lieblingswochentag. Wer sich vom gewöhnlichen Feiervolk abheben will, das nur am Wochenende ausgeht, zieht in Freiburg am Dienstag um die Häuser, ganz gleich um wie viel Uhr man am nächsten Tag zur Vorlesung muss. Und so nehme auch ich an zahlreichen Trinktouren teil. Ich bin ja nur einmal Ersti!

DIE ERNÜCHTERUNG

Nach vier Wochen in der neuen Heimat erkenne ich: Eigenständigkeit wird überbewertet. Nach der ersten Euphorie macht sich Langeweile breit. Ich überlege, was ich zu Hause mit meiner freien Zeit anfangen würde. Mir fällt ein: In Berlin hätte ich keine freie Zeit. Zu Hause würde ich jetzt bestimmt von meiner Mutter zum Wäscheaufhängen, Staubsaugen oder Badputzen angehalten. Dann doch lieber Langeweile. Ich verspüre Lust, jeden, den ich treffe, zu mir einzuladen – ich muss ja niemanden mehr um Erlaubnis fragen. Lautstarke Abende mit Freunden waren zu Hause aufgrund schlafender Familienmitglieder und empfindlicher Nachbarn unter der Woche unmöglich. Leider ist das im Süden nicht anders – schon bald stehen entnervte Nachbarn vor meiner Tür. Die sollten mal eine Woche Urlaub an der Admiralbrücke machen!

DER REALITY-CHECK

Kontrollanruf von zu Hause: „Hast du deine Finanzen im Blick? Bist du schon umgemeldet? Wie sieht es mit einem Nebenjob aus?“ In Zeiten von Handy und Internet ist das sogenannte Abnabeln doch nicht so einfach wie gedacht. Verdammt! Andererseits kann man als Kind die Investition von 19 Jahren elterlicher Fürsorge nicht von einem auf den anderen Tag für beendet erklären. Es wäre auch strategisch unklug, solange man auf finanzielle Unterstützung angewiesen ist. Also beantworte ich brav alle Fragen und versichere wider besseres Wissen, mich um die wichtigsten Dinge gekümmert zu haben. Anschließend tröste ich noch ein bisschen meine Schwester, die nun schlagartig zum Einzelkind geworden ist und somit die uneingeschränkte Aufmerksamkeit meiner Eltern genießt. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Am Abend meldet sich mein schlechtes Gewissen. Die angesprochenen Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich im Bett liege. Eigenständig zu sein heißt also auch, niemanden zu haben, der einem in den Allerwertesten tritt, wenn man wichtige Dinge aufschiebt. Im Grunde hat Mama ja recht: Ich könnte mich wirklich mal nach einem Job umsehen und mich ummelden. Die Finanzen habe ich übrigens schon lange nicht mehr im Blick.

DIE PHANTOMSCHMERZEN

Mit dem Linoleumboden habe ich mich arrangiert, und dank ausgiebiger Flohmarkt- und Ikeabesuche fühle ich mich in meinem kleinen Reich mittlerweile ziemlich wohl. Muss ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass unter dem neuen Komfort mein Geldbeutel leidet? Mein Finanzplan könnte wirklich optimiert werden, aber weil Freiburg voll von arbeitssuchenden Studenten ist, bleibt meine Jobsuche vorerst ohne Erfolg. Gut zu wissen, dass es meinen Kommilitonen nicht besser geht. Das hält uns nicht davon ab, das Freiburger Nachtleben weiterhin ausgiebig zu erkunden – wiederum zulasten des Geldbeutels. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die neue Heimat wirklich wie zu Hause anfühlt, bis die neue Selbstständigkeit im Autopilot funktioniert? Eigentlich wollte ich mich erst mal nicht mehr zu Hause melden, um zu zeigen, wie wahnsinnig unabhängig ich bin. Doch immer wieder stehe ich vor essenziellen Fragen: Welches Waschpulver ist das beste? Wie war noch mal das Rezept für Mamas legendäre Lasagne? Und: Langweilen sich meine in Berlin gebliebenen Freunde ohne mich? Andererseits habe ich immer noch schwer mit der Eingewöhnung zu kämpfen – auch hinsichtlich der sprachlichen Anpassung, denn „Schrippen“ heißen hier zum Beispiel „Wecken“. Hoffentlich komme ich nicht durcheinander, wenn ich über die Weihnachtsfeiertage meine Familie besuche. Die Bahnfahrt ist schon gebucht.

DIE BILANZ

Spätis und gute Clubs gibt es hier im Süden kaum, dafür habe ich mittlerweile andere Sachen zu schätzen gelernt. So halten Autofahrer gefühlte 50 Meter vor dem Zebrastreifen an, um einen über die Straße zu lassen – in Berlin wird eher noch mal ordentlich aufs Gaspedal getreten. Neulich erzählte mir ein Kommilitone von einer Freiburger Redewendung, die besagt, dass man hier keinen Stein werfen kann, ohne einen Studenten vom Fahrrad zu holen – gerade dieses Gefühl der Mobilität schätze ich sehr. Andererseits vermisse ich die schrägen Gestalten in der Berliner U-Bahn, deren Text ich immer noch auswendig kann. Und auch die Vielfalt, die nicht auffällt, weil sie zum Alltag gehört. Die beste Erkenntnis nach zwei Monaten aber lautet: Gute Freundschaften halten auch 600 Kilometer Entfernung aus.

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