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Vier, die sich gefunden haben. Jessica Lehmann und ihre Tochter Shirley Chantal (links) lernten Jessica Pak und deren Tochter Alina Marie in der „Jule“ kennen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Betreutes Wohnen: Mutter, Berater, Kind

Im Wohnprojekt „Jule“ lernen junge Alleinerziehende wie Jessica Pak und Jessica Lehmann, auf eigenen Füßen zu stehen – mit Anleitung.

Letzte Woche saß Jessica Pak in ihrem Berufsvorbereitungskurs und musste laut lachen. Die Hausordnung wurde verteilt. Wer 17 ist, bringt sie den Eltern, hieß es, und Jessica Pak hat sich gefreut. „18 Jahre! Ja!“, ruft sie nochmal, während sie davon erzählt. Ihre Freundin, die auch Jessica heißt, nickt ihr stolz zu. Denn für sich oder ihre zweijährige Tochter Alina Marie unterschreiben, das durfte die junge Mutter bislang nicht.

Ein paar Wochen zuvor saßen sie noch neben den Farbeimern auf dem Fußboden und redeten, etwas aufgeregt, über ihre Zukunft. Sie hatten ihre neuen Schlüssel in der Hand. Jessica Lehmann war 19 Jahre, Jessica Pak gerade mal 17. Sie kannten sich noch nicht lange, wussten aber schon, dass sie außer dem gleichen Vornamen und ihren zweijährigen Töchtern weitere Gemeinsamkeiten haben. Seit Mitte Mai wohnen die beiden nicht mehr bei ihren Müttern, sondern in der „Jule“.

„Jule“ steht für „Junges Leben“ und ist ein Wohnprojekt der Wohnungsbaugesellschaft Degewo, das Alleinerziehende bis zum Alter von 27 Jahren bei den großen Vorbereitungen für ein selbstständiges Leben unterstützt: Wohnung einrichten, Ausbildung nachholen, Arbeit finden. In dem elfstöckigen Haus im Norden Marzahns sind mittlerweile acht junge Mütter und ein junger Vater eingezogen. Jessica Pak wohnt mit Alina Marie in der dritten Etage, Jessica Lehmann mit Shirley Chantal in der siebenten.

An einem spätsommerlichen Dienstagnachmittag sitzt Jessica Lehmann im grün gestrichenen Projektcafé in der ersten Etage des Hauses. „Doch geschafft“, sagt sie und lehnt sich zufrieden zurück. „Am Anfang hatten wir Angst, ob wir das alles schaffen“, sagt Jessica Pak, die ihrer Freundin gegenübersitzt. Was sich alles über den Sommer verändert hat, das fällt den beiden jungen Müttern an ihren Kindern auf – und aneinander.

Alina Marie und Shirley Chantal laufen vergnügt durch das Projektcafé. Es gibt hier einen Raum zum Plaudern und für Workshops für die Eltern, einen zum Spielen für die Kinder. Es gibt eine Küche, einen Wickel- und Stillraum, eine Mini-Kindertoilette. Und einen sogenannten Ruheraum. In dem können die Kinder Zeit mit ihren Vätern verbringen, wenn die Mütter ihre Ex-Partner nicht in die eigene Wohnung bitten wollen.

Kurz nach dem Einzug im Mai war der Hausflur noch eine Baustelle. Die Modernisierungsarbeiten am Gebäude werden noch bis nächstes Jahr dauern. Die Malerfarbe für ihre Wohnung hatte Jessica Pak bereits vor der Schlüsselübergabe besorgt. Schon lange hatte sie sich danach gesehnt, alleine mit ihrer Tochter zu wohnen. Selbständiger zu werden. Den Schulabschluss nachzuholen und eine Arbeit zu finden. Aber ganz im Alleingang loszulegen, das traute sie sich nicht zu. „Alina war noch so schüchtern“, sagt Jessica. Zwei Stunden habe sie beim ersten Gespräch mit den „Jule“-Verantwortlichen dagesessen und kein Wort gesagt.

Jessica Lehmann war damals schon mit der Schule fertig. Aber wie es weitergehen sollte, wusste sie auch nicht so genau. Sie hatte mit offenen Zahlungen zu kämpfen. Und mit menschlichen Enttäuschungen. Gerade die Freunde, die ihr am wichtigsten waren, hatten sich während ihrer Schwangerschaft abgewandt. Diese Erfahrung habe sie unsicher gemacht. „Das ist schmerzhaft“, sagt sie heute rückblickend, „darüber muss man erst mal hinwegkommen.“ Als sie erfuhr, dass sie bei „Jule“ einziehen kann, habe sie geweint. „Weil ich wusste, jetzt geht es voran.“ Auf einmal so viele Hilfsangebote von verschiedenen Seiten, das war am Anfang auch etwas einschüchternd.

Astrid Egel ist Sozialarbeiterin vom Berliner Kinderring und tagsüber im Projektcafé für die Alleinerziehenden immer zugegen. Gerade in der Anfangszeit saß sie viel mit den Mädchen zusammen und hörte ihnen zu. Hin und wieder gab sie ihnen Tipps. Zum Alleinerziehendenzuschlag oder zum Konto-Dispo. Vor allem aber erinnerte sie die jungen Frauen, die alles zuerst möglichst gut für ihr Kind herrichten wollten, daran, ihr eigenes Leben nicht zu vergessen. Und sie hat gewarnt:„Mal sehen, wann wir den ersten Zickenkrieg haben.“

Im Sommer fingen die „Jule“-Bewohnerinnen an, ihr Leben neu zu regeln. Mit Unterstützung des Jobcenters richteten sie ihre Wohnungen ein. Sie fanden heraus, was die GEZ ist und was sie mit deren Rechnung tun sollen. Jessica Lehmann wusste nun auch, wie es weitergehen sollte: Bevor sie eine Ausbildung anfangen würde, wollte sie erst mal eine Berufsvorbereitung machen, weil die Schulzeit schon eine Weile her war und sie ihr Wissen etwas auffrischen wollte.Dazu hatte ihr auch Astrid Egel geraten. Jessica Pak schloss sich ihr an, die jungen Frauen besuchen den Kurs seither gemeinsam.

Seit Jessica und Jessica an der Berufsvorbereitung teilnehmen, beginnen ihre Wochentage früh. Bei Pak klingelt der Wecker um 4.50 Uhr, bei Lehmann zehn Minuten später. Aufstehen, anziehen, die Kinder fertig machen. Um sechs Uhr treffen sich die jungen Mütter am Haustor und bringen ihre Töchter zur Kita. Danach gehen sie zur Berufsvorbereitung, Beginn ist um sieben, Ende nachmittags halb vier. Dann holen die jungen Frauen ihre Kinder aus der Kita ab und versorgen sie zu Hause. Am Wochenende würden sie am liebsten ausschlafen und wachen dann doch morgens um sechs oder sieben auf.

Jessica Lehmann möchte gerne Tierpflegerin werden, Jessica Pak will in die Altenpflege gehen. Dass sie nun zuversichtlich nach vorne blicken, liegt vor allem an der Unterstützung durch die „Jule“. Sie haben nicht nur mehr Selbstvertrauen, sondern auch die eine oder andere neue Freundin. Jessica erkennt, wenn Jessica schlechte Laune hat, und umgekehrt. Alles, sagt Jessica Pak, könne man im Alltag gemeinsam machen, wenn Zeit dafür ist: „Kaffee trinken, quatschen, Haare färben.“ Auch ihre Töchter seien mittlerweile mit den anderen Bewohnern vertraut. Wenn die Kinder abends aus dem Fenster sehen, wie die Sozialarbeiterin nach Hause geht, dann gibt es lange Winkrituale.

Der Alltag der jungen Mütter ist in den letzten Monaten „erwachsener“ geworden. Dadurch hat sich auch die Form der Unterstützung geändert. Anfangs konnten die Alleinerziehenden auch einfach mal tagsüber runter ins Projektcafé kommen. Nun ginge das nicht mehr, sagt Sozialarbeiterin Astrid Egel. Schule oder Ausbildung gehen vor.

Auch das Zusammenleben der Bewohner ist „erwachsener“ geworden. Alle zwei Wochen tauschen sie sich jetzt in einem offenen Elterntreff zu Erziehungsfragen aus. Das sei sogar lustig, meint Jessica Lehmann. Und Jessica Pak ergänzt: „Ja, wir können auch Spaß haben.“ Manche Probleme lösen sie in Eigeninitiative. Jessica Pak hat etwa einen Flohmarkt für alte Kinderklamotten initiiert, im sozialen Netzwerk Jappy ist sie schon länger in einer Gruppe für junge Alleinerziehende und tauscht sich so aus. „Man muss ja nicht immer die gleichen Fratzen sehen“, sagt sie und lacht Jessica Lehmann zu.

Vor ein paar Tagen kamen erstmals alle Bewohner des Hauses am Abend zum Anstoßen zusammen. Die meisten absolvieren jetzt eine Berufsvorbereitung oder machen eine Ausbildung. Und auch wenn ihr Alltag jetzt morgens um fünf beginnt, haben sie nun das, wovon sie vor einem halben Jahr noch nicht mal zu träumen wagten: eine Perspektive.

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