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Ein echter Bachelor-Student kennt keine Freizeit. Das Hamsterrad dreht sich ständig weiter.

© picture alliance / Zoonar

Bologna-Reform: Leben im Hamsterrad

Referate vorbereiten, für Klausuren lernen, Hausarbeiten schreiben: So ein Stress, klagen Bachelor-Studenten. Unser Autor, der gerade mit seinem Master begonnen hat, kann das nicht nachvollziehen.

Warum ich denn unbedingt meinen Master machen wolle, fragte mich eine Freundin vor einiger Zeit, warum ich nicht lieber arbeiten gehe und Geld verdiene. Die Antwort fiel mir leicht: Weil ich mich so unfertig fühle, sagte ich ihr, so unwissend. Ich habe doch von nichts eine Ahnung, nach drei Jahren Bachelor-Studium. Ich will etwas lernen. Das war, bevor ich anfing, Geschichte an der Humboldt-Uni zu studieren. Da dachte ich noch, der Master wäre eine Herausforderung: anspruchsvoll und anstrengend.

Mein erstes Master-Semester ist jetzt vorbei, gerade haben die Semesterferien begonnen. Aber Ferien soll man nicht sagen, erklärte mir ein Kommilitone, vorlesungsfreie Zeit, das sei der richtige Begriff. Denn von Urlaub könne ja keine Rede sein. „Wir müssen trotzdem für Klausuren lernen und Hausarbeiten schreiben“. Ein echter Bachelor- oder Master-Student kennt keine Freizeit. Das Hamsterrad dreht sich immer weiter.

Ungeheurer Druck lastet auf unseren Schultern, Leistungsdruck, Konkurrenzdruck, Erwartungsdruck. Wir schreiben Prüfungen am Fließband, büffeln nächtelang, uns bleibt keine Zeit für Nebenjobs oder Hobbys. Einige von uns schmeißen sich sogar Ritalin ein, um sich besser konzentrieren zu können; andere schlucken Antidepressiva, um nicht am Dauerstress zu zerbrechen.

Das jedenfalls ist das Bachelor-Master-Klischee, von dem man immer wieder lesen kann. Und das ist auch das Mantra, das einige meiner Kommilitonen herunterbeten, als wären sie kahlköpfige Zen-Mönche. An der Uni werden „Zeit- und Selbstmanagement“-Kurse angeboten, in denen wir lernen, wie man mit dem „permanenten Zeitdruck“ klarkommt. Und es gibt Bücher wie den „Survivalguide Bachelor“, der uns helfen soll, im Studium zu „überleben“, als würden wir wie Soldaten der französischen Fremdenlegion durch den Dschungel robben.

Mit der Wirklichkeit, mit dem Studienalltag hat das jedoch nichts zu tun – zumindest nicht, wenn man Geschichte, Politik, Germanistik oder ein anderes Fach der Geistes-, Sozial- oder Kulturwissenschaften studiert. Druck? Fehlanzeige. Wenn man Jura, Medizin oder ein naturwissenschaftliches Fach studiert, mag das anders sein. Ich aber hatte noch nie so viel Freizeit wie jetzt. In den letzten vier Monaten habe ich drei Referate gehalten und einen fünfseitigen Essay verfasst. Das war’s. Keine Klausuren, keine Prüfungen, nichts. In den Ferien muss ich eine Hausarbeit schreiben, 25 Seiten in acht Wochen.

Vom Burn-out bin ich so weit entfernt wie ein Erstsemester von der Promotion. Wenn schon, dann leide ich unter dem Bore-out-Syndrom: Fünf Veranstaltungen habe ich in der Woche, mittwochs ist frei, dazu kommen drei, vier Stunden Texte lesen. Dagegen war selbst der Bachelor stressig und schon dort musste man weder intellektueller Überflieger noch Streber sein, um mit einer 1 vor dem Komma abzuschließen. Wenn ich nicht nebenbei arbeiten würde, dann würde ich vor Langeweile sterben.

Offenbar sehen das nicht alle Kommilitonen so. Einige jammern ständig, wie viel sie zu tun hätten: zu viele Prüfungen, zu viel zu lesen, zu viele Hausarbeiten. Die alte Bachelor-Master-Leier. Dabei wurde die Anwesenheitspflicht längst abgeschafft, wer keine Lust hat, muss auch nicht im Seminar sitzen. Hausaufgaben bekommen wir nicht allzu viele, mehr als 20 Seiten müssen wir nur selten lesen, meine Dozenten bemühen sich sogar, uns die Texte schmackhaft zu machen: „Der liest sich ganz einfach und ist auch nicht so lang.“

Als eine Dozentin zu Beginn des Semesters vorschlug, dass wir uns nach jedem Seminar das Wichtigste in fünf Stichpunkten aufschreiben und auf eine Online-Plattform stellen sollten, begann das große Gezeter. Obwohl man das lässig in zehn Minuten bei einer Tasse Kaffee heruntertippen kann, meinte ein Kommilitone: „Letzte Woche habe ich dafür zwei Stunden gebraucht.“ Viele im Raum nickten zustimmend. Schließlich blies die Dozentin das Ganze ab. Kein Einzelfall.

Aber warum jammern einige von uns so viel? Sie alle haben ein super Abi hingelegt, sonst hätten sie es nicht an eine Berliner Uni geschafft, dafür ist der Numerus clausus zu hoch. Sind sie tatsächlich überfordert oder einfach nur wehleidig?

Burkhard Seegers ist Leiter der Psychologischen Beratungsstelle beim Studentenwerk Berlin. Zu ihm kommen die Studenten, die ins Straucheln geraten sind. Die meisten sind Studienanfänger und haben Probleme mit Zeitmanagement und Selbstorganisation. Im Jahr 2011 sei die Zahl der Studenten, die sich psychologisch beraten lassen, um 15 Prozent gestiegen, sagt Seegers. Tendenz steigend.

Dass viele Bachelor-Studenten sich überfordert fühlen, bestätigt auch eine Studie, die das Deutsche Studentenwerk und das Bildungsministerium 2011 veröffentlicht haben, über 16 000 Studenten wurden befragt. Das Ergebnis: Jede Woche investieren Bachelor-Studenten im Durchschnitt 36 Stunden fürs Studium und sieben Stunden für den Nebenjob – nur eine Stunde mehr als ihre Kommilitonen aus den Diplom- und Magisterstudiengängen und deutlich weniger als Leute, die sich in Jura oder Medizin auf dem Weg zum Staatsexamen abrackern. Dennoch gaben zwei Drittel der Bachelor-Studenten an, dass die zeitliche Belastung hoch oder zu hoch sei. In den alten Studiengängen war es nur die Hälfte. Oder anders gesagt: Bachelor-Studenten haben genauso viel zu tun, sie jammern nur mehr.

Die Autoren der Studie erklären sich die gefühlte Überforderung damit, dass das Studienkorsett mit der Bologna-Reform enger geschnürt worden sei, es weniger Freiheit gebe und weniger Wahlmöglichkeiten. Jede Note zählt von Beginn an. Und am Ende wollen alle einen Masterplatz ergattern, alle zwängen sich durch dasselbe Nadelöhr. Das alles stimmt, andrerseits erleichtern die Module es einem auch, sein Studium zu planen. Und wer viele Prüfungen schreibt, der kann eine schlechte Note auch ausgleichen. Burkhard Seegers sagt: „Durchschnittlich begabte Studierende können die Anforderungen des Studiums durchaus bewältigen, wenn sie keine zusätzlichen Belastungen im finanziellen oder persönlichen Bereich haben.“

Das sieht auch Holger Walther so. Der Diplom-Psychologe berät Studierende an der Humboldt-Uni, vor kurzem ist sein Buch „Ohne Prüfungsangst studieren“ erschienen. Seitdem das neue Studiensystem eingeführt wurde, hätten sich die Probleme der Studierenden nicht verändert, sagt Walther. Gestresste Studierende habe es schon immer gegeben, die Gründe für den Stress seien sehr unterschiedlich. „Studierende kommen wegen Prüfungsängsten oder Aufschieben zu mir; aber auch weil sie unter Partnerschaftsproblemen, Einsamkeitsgefühlen oder Problemen mit den Eltern leiden.“

Vielleicht liegt es also weniger am Bachelor-/Master-System als am übertriebenen Ehrgeiz, dass einigen der Uni-Alltag über den Kopf wächst. Vielleicht jammern einige so viel, weil sie ihren übersteigerten Erwartungen an sich selbst nicht gerecht werden können. Vielleicht streben sie nach dem perfekten Lebenslauf mit Bestnoten, Auslandserfahrung und Praktika und scheitern dann schon an den einfachen Dingen – wie ein Bodybuilder, der sich mit Steroiden aufpumpt, aber völlig außer Atem ist, wenn er den Einkauf zwei Treppen hochschleppen muss.

Mehr Gelassenheit, das rät Burkhard Seegers den Studierenden. Die einen bräuchten eben länger als die anderen. „Jeder muss seinen eigenen Rhythmus finden“, sagt er. Die Welt geht nicht unter, wenn man zwei Semester länger studiert, mal ein Seminar schwänzt oder eine Prüfung verhaut. Wir müssen nicht alle schon mit 23 bei McKinsey oder Boston Consulting die dicke Kohle scheffeln.

Wenn heute noch mal gefragt werden würde, warum ich studiere, würde ich sagen: Weil ich noch keine Lust habe, fünf Tage in der Woche zu arbeiten, acht, neun Stunden am Tag. Weil ich noch nie ein so entspanntes Leben hatte. Und weil ich fast alles tun und lassen kann.

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