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© Teutopress GmbH

Borderline-Syndrom: "Ich hasse mich"

Johanna, 20, hat eine Persönlichkeitsstörung. Sie ist Borderlinerin. Ihr Alltag ist von Selbsthass geprägt. Jetzt beginnt für sie der Abi-Stress - und die wohl schwerste Phase in ihrem Leben

Freitag. Endlich Wochenende. Feiern gehen, entspannen, den Sonntag im Bett verbringen. Wir freuen uns. Doch für Johanna (so will sie genannt werden) sind Wochenenden die Hölle. Am Sonntag, wenn sie allein in ihrer Einzimmerwohnung sitzt und nur darauf wartet, dass dieser Tag endlich vorbeigeht, ist es am schlimmsten. Sie ist dann verdammt einsam. Das Ticken der Uhr ist zermürbend. Wie aus dem Nichts entsteht dann dieser Druck, diese innere Spannung, die sie zu zerreißen droht, sie packt und schüttelt. Johanna versucht zu schreien, doch aus ihrem geöffneten Mund dringt kein Laut, der die bedrohliche Stille in ihrem Zimmer aufbrechen könnte. In diesen Momenten nimmt Johanna eine Schere und schneidet sich in die Unterarme, die Schultern, bis das Blut dunkelrot aus den Schnitten läuft. Sie spürt den Schmerz kaum.

Johanna ist Borderlinerin. Ihre Seele ist krank. Sie leidet an einer Persönlichkeitsstörung, deren Krankheitsbild nur schwer zu fassen ist. Menschen wie sie sind emotional instabil, leben und fühlen nur in Extremen. Wie den meisten Borderlinern sieht man Johanna die Krankheit nicht an. Sie sind Meister der Alltags-Camouflage, spielen ihrer Umwelt etwas vor, damit keiner merkt, dass sie anders sind. Johanna ist ein unscheinbares Mädchen, das so normal wirkt wie es nur jemand kann, der das Normalsein stundenlang vor dem Spiegel übt.

Ein braunes Longsleeve verdeckt die Narben auf ihren Unterarmen. Sie hat sich die dunkelblonden Haare streng nach hinten gebunden. Und lächelt. Heute ist ein guter Tag, sagt sie. Obwohl, mitten im Abi-Stress, der Druck momentan kaum auszuhalten ist und sie eigentlich nicht weiß, wie sie die nächsten Monate überstehen soll. „Früher wollte ich immer einen Durchschnitt von eins machen“, erzählt sie und fügt nach einem kurzen Schweigen hinzu: „Heute will ich es nur irgendwie schaffen.“

Früher. Das sagt Johanna oft. Früher war vor der Krankheit, die vor acht Jahren so plötzlich begann, wie sie Johanna heute überfällt. In der siebten Klasse war das. Johanna fühlte sich zu dick. Eine Klassenkameradin schenkte ihr ein Buch über ein magersüchtiges Mädchen, das das Essen verweigert, bis es nur noch 35 Kilo wiegt. Für Johanna ein Erweckungserlebnis. „Ich wollte magersüchtig sein“, erinnert sie sich. Doch dafür war die Lust am Essen zu groß. Johanna begann, sich den Finger in den Hals zu stecken. Frisst. Kotzt. Frisst. Mit dem „Spucken“, wie sie es fast schon liebevoll nennt, fing alles an. Eine Borderline-Erkrankung versteckt sich häufig hinter der viel auffälligeren Bulimie.

Mit 14 machte Johanna ihre erste Therapie. Dann noch eine. Sie irrlichterte von Therapeut zu Therapeut. Nichts half. „Ich wurde eben immer nur auf Essstörung behandelt“, erinnert sie sich. Schließlich überwies man sie in eine Spezialklinik. „Dort meinten sie, ich würde viele Symptome einer Borderline-Erkrankung aufweisen.“ Damals wusste Johanna noch nicht, was das für ihr Leben bedeutet. Johanna saß nur da und fühlte sich leer. Borderline, das klang nach Irrenhaus. Heute weiß sie mehr über die Krankheit. Sie hat Bücher darüber gelesen. Sie weiß, dass eine Borderline-Persönlichkeitsstörung fast immer auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückzuführen ist. Wenn sich etwa die Eltern scheiden lassen, ein Elternteil stirbt oder das Kind körperlichen oder sexuellen Misshandlungen ausgesetzt ist.

Als sie sieben war, ist Johannas Vater gestorben. Bis zum Tod des Vaters haben die Eltern viel gestritten. Es war immer laut bei ihr zu Hause, erinnert sich Johanna. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, die selbst an Depressionen leidet, ist danach zerbrochen.

„Ich hatte immer das Gefühl, dass ich ihr egal bin.“ Das ist heute noch so. Vor drei Jahren hat ihre Mutter sie rausgeschmissen. Es ist besser so, sagt Johanna nur. „Wir haben uns eh nie verstanden.“ Seitdem ist Johanna allein mit sich und ihrem Körper, dieser für sie abscheulichen Hülle. „Ich hasse mich“, sagt Johanna. Trotzdem steht sie dauernd vor dem Spiegel. Doch der Blick auf ihren Körper ist verzerrt. Johanna kann sich selbst nicht sehen. Und so holt sie sich die Bestätigung über die Jungs, über Sex. „Ich definiere mich nur über das, was andere Leute über mich sagen.”

Wenn Johanna mit anderen Menschen zusammen ist, schlüpft sie in eine Rolle, imitiert Leute, die beliebt sind. „Ich spiele ein Leben, das nicht meins ist”, sagt sie. Ihre Lieblingsrolle: Betty Rizzo aus dem Musical „Grease“. Nach außen cool. Und innen doch so verletzlich. Längst hat sie vergessen, wie die echte Johanna ist. Das Verstellen kostet Kraft, viel Kraft.

Abends, wenn sie wieder mit sich allein sein muss, ist Johanna erschöpft. So erschöpft, dass sie nicht schlafen kann. Sie liegt stundenlang wach und spürt, wie der Druck langsam in ihr aufsteigt. Oft singt Johanna, wenn sie merkt, dass ihr die Realität zu entgleiten beginnt. Doch gegen die Panikattacken ist sie machtlos.

„Mittlerweile habe ich panische Angst vorm Alleinsein”, erzählt sie. Deshalb rennt sie nachts oft einfach ziellos durch die Straßen, setzt sich in irgendwelche Bars. In einem Cafe hat sie neulich einen Typen kennengelernt. Der hat immer Zeit. Und Alkohol. Johanna geht dahin, wenn ihre Wohnung und das Alleinsein wieder zur Bedrohung werden. Der Typ ist älter als sie, sie saufen die ganze Nacht zusammen. Bis zur Besinnungslosigkeit, dann haben sie Sex. Ohne Gefühl. Denn Sex ist für Johanna, wie auch das Spucken, eine Form der Selbstverletzung. „Ich hasse Sex, weil es mich fast zerreißt vor Schmerzen. Ich könnte schreien, will aufhören”, sagt sie angewidert. Doch sie sagt nur: „Tu mir weh, ich will, dass du mir wehtust.”

Johanna erzählt all das mit einem Lächeln, von dem man nicht weiß, ob es nicht nur dick aufgetragene Schminke ist.

Allein, ohne Hilfe wird Johanna ihre Krankheit nicht in den Griff kriegen können. Das weiß sie. Doch Johanna gilt als schwer therapierbar, wurde von ihrer Therapeutin aufgegeben. Ihre letzte Chance ist nun ein Aufenthalt in einer Klinik. Dort würde Johanna eine Therapie machen, in der sie Gefühle aus ihrer Kindheit hervorholen und aufarbeiten muss. Das ist aufwühlend, anstrengend und braucht Zeit. Die hat sie so kurz vor den Prüfungen nicht. Und wenn sie jetzt geht, wird sie kein Abi machen können. Denn mit 17 ist Johanna schon einmal in die Klinik gegangen. In den Sommerferien. Sie blieb bis Oktober und hatte so viel Stoff verpasst, dass sie die Zwölfte wiederholen musste.

Sie wird ihr Abitur also durchziehen, auch wenn sich die Anfälle in dieser Zeit häufen werden, der Druck vielleicht unerträglich wird. Und danach? „Eigentlich wäre das doch ein guter Abschluss, nach dem Abitur für drei Monate wegzugehen”, sagt sie noch. Doch sie meint nicht Neuseeland, für viele von uns die Endstation Sehnsucht. Wenn Johanna das heute sagt, meint sie die Klinik. Nach dem Abi wird sie sich für zwölf Wochen einweisen lassen.

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