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Panorama: Ciao Ragazzo

MitJoschka Fischers Rückzug endet eine Ära. Unser Autor wünscht den 68ern noch ein schönes Leben.

Beim ersten Mal war ich 18, und danach war vieles anders. Bis dahin war Helmut Kohl Bundeskanzler gewesen, 16 Jahre lang, und für meine Freunde und mich hatte das bedeutet: immer schon.

Wir wussten: Die Erde ist rund und Helmut Kohl ist Kanzler. Samstags ist Bundesliga und Helmut Kohl ist Kanzler. Die Mädchen interessieren sich nur für ältere Jungs, und Helmut Kohl ist Kanzler. So war das. Helmut Kohl war nicht irgendein Politiker, sondern der Politiker überhaupt. Wir wussten: Politiker tragen unmögliche graue Anzüge und sprechen seltsame Dialekte. Ihre Frauen heißen Hannelore, wie die Frau von Heino, und können super Saumagen kochen. Jedes Jahr im Urlaub lassen Politiker Fotos von sich machen, auf denen sie eine Strickjacke anhaben und mit kleinen Kaninchen oder Ziegen schmusen.

Es war also nicht besonders schwierig, Politiker peinlich zu finden. Und egal was man machte, man hatte immer das Gefühl, etwas zu tun, das dem Kanzler bestimmt nicht gefallen würde. Wir klebten „Nazis raus“-Aufkleber auf teure Autos und kauften uns rote Schnürsenkel. Wir tranken viel zu viel Dosenbier in gammeligen Partykellern. Und wenn wir am nächsten Tag einen schrecklichen Kater und ein bisschen Angst vor unseren Eltern hatten, dachten wir: Wenn der Kanzler uns sehen könnte! Dann wüsste er, dass wir mit ihm nichts zu tun haben wollen! Zugegeben: Eigentlich war unser Verhalten viel peinlicher, als Helmut Kohl jemals sein konnte. Und dann war er plötzlich weg. Ich hatte zum ersten Mal wählen dürfen, und ich hatte es Helmut Kohl gezeigt. Dem legendären, dem unbesiegbaren Kanzler der deutschen Einheit! Es war ganz einfach gewesen, und nun hatten wir es mit Politikern zu tun, die völlig anders zu sein schienen. Meine Freunde und ich hatten keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollten.

Und heute? Heute ist auch die so genannte „Ära Rot-Grün“ vorbei. Anders als die „Ära Kohl“ habe ich sie von Anfang bis Ende bewusst miterlebt, und manchmal frage ich mich, was sich in dieser Zeit alles verändert hat. Mal abgesehen von mir selbst. (Mittlerweile trinke ich Bier aus Flaschen. Dosenpfand! Und ich benutze das Wort „Ära“, das ansonsten nur weißhaarige Weise verwenden, die bei Fernsehinterviews vor riesigen Bücherwänden sitzen und Pfeife rauchen.)

Nun gab es also einen Kanzler, der weitaus schickere Anzüge trug, weitaus sympathischer wirkte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Fußball Richtung Tor drosch. (Damit er nicht beleidigt war, ließ der Torwart den Ball spätestens beim dritten Versuch durch.) Einen Kanzler, der gerne daran erinnerte, wie er unter dem Kampfnamen „Acker“ sämtliche Bolzplätze Ostwestfalens unsicher gemacht hatte. Und daran, dass seine Mutter Putzfrau gewesen war. Außerdem konnte man ihn nur schwer davon abhalten, immer wieder Rilkes etwas kitschiges Gedicht „Herbsttag“ zu rezitieren (wenn auch mit einigen Fehlern), um so seine Liebe zur Kunst unter Beweis zu stellen. Mit dem gleichen Gedicht hatte ich schon mal versucht, meine Liebe zu meiner Sitznachbarin im Deutschkurs unter Beweis zu stellen, allerdings vergeblich.

Es schien also gewisse Gemeinsamkeiten zwischen dem Kanzler und mir zu geben, aus irgendwelchen diffusen Gründen hatte ich ihm mein Vertrauen geschenkt. Und bei den Grünen gab es sogar Claudia Roth, die mal eine Band namens „Ton Steine Scherben“ gemanagt hatte. Und natürlich den Bundesminister des Auswärtigen Joseph Fischer, ehemaliger Lederjacken- und Turnschuhträger, Taxifahrer und Steineschmeißer, der häufig Gewichtsprobleme und dennoch viele Frauen hatte. (Seine aktuelle Freundin ist seltsamerweise kaum älter als meine!) Der manchmal ungemein charmant und manchmal ungemein arrogant war und der den Vizepräsidenten des Bundestags „Arschloch“ genannt hatte. Irgendwie konnte man sich mit dem ein wenig blödsinnigen Gedanken anfreunden, mit diesen Leuten bis morgens um vier Uhr in einer WG-Küche rumzusitzen und selbstgedrehte Kippen zu rauchen. Man hätte sich wahrscheinlich gestritten, aber es kam einem zumindest so vor, als gäbe es eine gemeinsame Ebene. Das war seltsam. Oder besser: Das waren die 68er.

Waren? Na ja, Schröder ist immer noch Kanzler, wenn auch vielleicht nicht mehr lange. Er randaliert jetzt in Elefantenrunden und macht immer diese schreckliche Geste, die schon die Lieblingsgeste von Helmut Kohl war. Und von Julius Cäsar, glaube ich. Claudia Roth ist auch noch da. Aber Joschka, der Vorzeige-68er, hat definitiv keine Lust mehr. „Ciao Ragazzi“ hat er gesagt, und weg war er. Deshalb, aber vielleicht nicht nur deshalb, findet man jetzt überall lange Artikel, in denen die 68er verabschiedet werden. Manchmal mit Tränen in den Augen, manchmal mit einem Arschtritt. Fischer ist nur noch der „Superstar a.D.“ („Der Spiegel“), der „Draußenminister“ („Die Zeit“). Und trotzdem lauern ständig irgendwelche Journalisten Joschkas und Gerds ehemaligen Weggefährten auf, um mit ihnen über alte Zeiten zu plaudern. Und trotzdem ist mir noch nicht ganz klar geworden, wer diese 68er überhaupt sein sollen.

Ich vermute, das liegt daran, dass jeder sich etwas anderes unter ihnen vorstellen möchte. Jedenfalls geht es heute nur selten um ihren Protest gegen den Vietnamkrieg, ihre leicht verworrenen sozialistischen Ziele und ihre Forderungen nach einer ernsthaften Aufarbeitung der Nazi-Diktatur. Die Studentenbewegung liegt lange zurück, und interessant scheint vor allem zu sein, was aus ihren Protagonisten später geworden ist, ob sie ihre Ideale „verraten“ oder sich „weiterentwickelt“ haben. Man liest dann von graubärtigen Studienräten, die noch immer die „taz“ abonnieren und gleichzeitig ein prall gefülltes Aktiendepot besitzen. Oder von gierigen Topmanagern, die abends heimlich kiffen. Oder eben vom Kanzler und vom Außenminister. Manche 68er sind aber auch gar nichts geworden. Oder sogar Rechtsextremisten, wie der frühere NPD-Anwalt Horst Mahler, den vor vielen Jahren einmal Innenminister Otto Schily verteidigte.

Aber das ist natürlich nicht alles. Natürlich wird auch darüber diskutiert, was jene 68er, die es bis in die Regierung geschafft haben, dort erreicht haben. Zum Beispiel, dass Homosexuelle jetzt heiraten können, fast zumindest. Das finde ich gerecht. Ein neues Staatsbürgerschaftsrecht wurde beschlossen, und Gerald Asamoah darf in der Nationalmannschaft spielen, obwohl er in Ghana geboren wurde. Auch das ist gerecht. Und beim Irakkrieg hat Deutschland nicht mitgemacht, was wohl keine dumme Entscheidung war, genau wie der Atomausstieg. Und wenn man möchte, kann man jetzt Müsli kaufen, von dem man weiß, was drin ist. Das ist in Ordnung, obwohl ich lieber Currywurst esse. Wie Schröder.

Aber reicht das? Oder sind die Vorbehalte der ehemaligen Möchtegern-Revolutionäre gegen Konkurrenz- und Elitedenken dafür verantwortlich, dass es um die deutsche Wirtschaft und unser Bildungssystem alles andere als gut bestellt ist? Dass es fünf Millionen Arbeitslose gibt? Und haben ihre Vorstellungen von der „freien Liebe“ dafür gesorgt, dass kaum noch intakte Familien existieren?

Ehrlich gesagt – ich weiß das alles nicht so genau. Ich weiß auch nicht, ob meine Freundin Recht hat. Die ist ein Lehrerkind und meint, die 68er, also in diesem Fall ihre Eltern, seien schuld daran, dass sie immer in komischen lila Latzhosen rumlaufen musste, als sie noch klein war. Jedenfalls denke ich, dass die 68er die Politik entscheidend verändert haben. Und sie spannender gemacht haben. Selbst CDU-Finanzexperten erzählen mittlerweile von ihrer Vergangenheit als Mofa-Rocker, damit sie nicht zu langweilig wirken, und Schwule können jetzt Parteichef oder Bürgermeister werden. Die 68er mögen so eine Art Dinosaurier sein, also irgendwie unzeitgemäß. Aber das heißt doch auch, dass sie große Fußspuren hinterlassen.

Stefan ist 25 Jahre alt.

Stefan Hermes

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