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Panorama: Erziehung auf dem Pferderücken

Schwierige Rütli-Schüler lernen auf einem Reiterhof, sich im Leben neu zurechtzufinden

Sandra* hatte keine Lust mehr, in die Schule zu gehen. Eigentlich ist sie Schülerin der 8. Klasse in der Neuköllner RütliSchule, doch dort ließ sie sich lange nicht mehr sehen. Nach intensiver Betreuung und vielen Gesprächen nimmt sie jetzt wieder am Unterricht teil.

Und das liegt sicher auch daran, dass Sandra Mozart mag. Mozart heißt „ihr“ Pferd auf einem Reiterhof bei Potsdam. Zweimal in der Woche fährt die 15-Jährige mit zwei anderen Schwänzern auf den Hof, den Wälder, Seen und Sandwege umgeben. Zu DDR-Zeiten befand sich hier eine Schweinemast. Jetzt stehen in den Ställen Pferde und Ponys.

Die Luft riecht nach Heu, Erde und Pferdeäpfeln. Geht der Besucher über den Hof, muss er aufpassen, nicht hineinzutreten. Das passiert Nicole Bannert nur selten. Die 42-jährige Physiotherapeutin betreut das Trio aus Neukölln vor Ort und versucht, sie durch „neue Erfahrungen“ dazu zu bringen, über das eigene Leben nachzudenken. Denn so könnte Motivation entstehen, wieder zur Schule zu gehen, einen Abschluss zu machen.

Das Projekt entstand in der Weserstraße in Neukölln in einem Verein, dessen „Initiative Löwenherz“ sich um sozial benachteiligte Jugendliche und ihre Bildungschancen kümmert. Projektleiter Pablo Ruiz führt den Ansatz von Bannert weiter aus: „Es geht darum, den Schülern eine Erfahrung zu vermitteln, die sie so in der Stadt nicht haben können.“ Die Schüler sollten die Natur bewusst spüren und erleben, denn dies sei heilsam, so der 39-jährige Pädagoge.

„Löwenherz“ hatte schon vor dem Brandbrief den Kontakt zur Rütli-Schule gesucht. Als Ruiz und Nicole Bannert sich bei den Schülern vorstellten, schlug ihnen eine „absolute Nullbock-Haltung“ entgegen. Doch davon war schon während des ersten Tages auf dem Hof nichts mehr zu spüren. Da haben sie ein Weidenhaus gebaut, und jeder hat mit angefasst.

Nachdem das Weidenhaus stand, die Neuköllner Jugendlichen mit der noch unbekannten Natur vertraut waren, begann der Kontakt zu den Tieren. Jeder Schüler bekam ein Pferd zugeteilt; so sollte sich eine Beziehung aufbauen.

Eine Beziehung zu ihrem Tier hat Sandra schnell gefunden. Sie begrüßt Mozart zärtlich mit „Hey Dicker“, lässt ihn an der Hand schnuppern. Den Zugang zum Pferd fand sie wohl auch deshalb so schnell, weil sie Tiere schon immer mochte. Jetzt kann sich Sandra vorstellen, Tierpflegerin zu werden, aber dazu braucht man einen Schulabschluss. Vielleicht wird ihr die Hoferfahrung helfen, ein Ziel zu finden, für das es sich lohnt, Anstrengungen zu leisten, sagt Bannert.

Was Nicole Bannert dem Trio ebenfalls beibringt, ist Achtung für den anderen, und sie sagt, dass sich vor allem Sandra schon sehr verändert habe: „Sie ist richtig aufgeblüht, verwendet nicht mehr ständig Kraftausdrücke. Eigentlich ist sie ein zartes Mädchen, das ich sehr mag.“ Das Ruppige des Neuköllner Mädchens sei nur Fassade aus Angst und Unsicherheit, vermutet die Physiotherapeutin.

Dass viel Zärtlichkeit in Sandra steckt, sieht man, wenn sie sich mit Mozart beschäftigt. Sie streichelt das Pferd, umarmt es und klopft ihm auf den Rücken. Obwohl die Hauptschülerin eigentlich nichts lieber möchte als reiten, lässt sie sich viel Zeit mit der Pferdepflege: Zuerst wird das Pferd gestriegelt, dann werden die Hufe ausgekratzt, der Schmutz entfernt. „Das Pferd ist so ruhig, da werde ich auch ganz ruhig.“

An der Rütli-Schule werden die Jugendlichen von Lehrerin Steffi Krämer-Evert betreut. Sie begleitet ihre Schützlinge auf den Hof und unterstützt dort die Arbeit von Nicole Bannert. Auch sie hat festgestellt, dass sich Sandra positiv verändert hat. „Als ich sie kennen lernte, war sie völlig ablehnend und aggressiv.“ Jetzt sei die Schule wichtig geworden, Sandra eine ihrer verlässlichsten Schüler überhaupt, könne sogar in zwei Jahren einen Schulabschluss hinbekommen, glaubt die Lehrerin.

Aber erst mal wird geritten. Sandra ist jetzt in der Reithalle. Das Pferd ist noch unsicher, braucht Führung. Pferde sind Herdenwesen, ein Leittier führt in der Natur die ganze Herde. So hat in der Reithalle der erste Reiter immer die Verantwortung für die ganze Truppe, gibt das Signal für den Aufbruch, und jeder der drei Schulverweigerer übernimmt einmal die Führung.

Nächste Woche werden sie wiederkommen. Dann werden die Schulverweigerer ihre Erfahrungen auf dem Hof in Sandstein meißeln.

*Name geändert. Das Reiterhofprojekt wird finanziert über Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds.

André Glasmacher

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