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Panorama: Hauptsache wild, Hauptsache keine Eltern

Freiheit nach 16 Uhr – unsere Kolumnistin Pascale Hugues war in Frankreich Kind

Die Freiheit begann um vier Uhr nachmittags, wenn wir das Tor der Schule Sainte Madeleine in Straßburg aufstießen. Ein massives wuchtiges Gebäude, Inkarnation der republikanischen Tugenden. Über dem Eingang die blauweiß-rote Fahne. In jedem Klassenraum ein Bild von de Gaulle. Alle Kinder aus dem Viertel spielten bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Straße; soziale oder nationale Herkunft waren unwichtig. Himmel und Hölle, Gummitwist, Ball, Rollerfahren oder Verstecken in den Gässchen der Altstadt ..., die Auswahl war riesig.

Im Sommer vergnügten wir uns damit, die turtelnden Liebespaare auf den Bänken der Uferpromenade aufzuschrecken. Im Winter grillten wir unsere Schokoladenbrötchen auf den Kerzen des Münsters. „Der Kratz“, ein baufälliger Laden am Ende des Schulwegs, war unsere AliBaba-Schatzhöhle. Frau Kratz versenkte ihre Finger mit den Trauerrändern in die großen Gläser und förderte Lakritzschnecken zutage. Manchmal langweilten wir uns auch, wenn wir im Kreis auf dem zerrupften Rasen des „Plätzchens“ saßen – ein hässlicher, kahler Platz mit drei Büschen, einem Clochard, einem starken Geruch nach Katzenpisse. Kein raffiniertes Klettergerüst und, das Wichtigste, keine Bank mit einer tödlich gelangweilten Mutter, die ihre Brut nicht aus den Augen ließ. Die Großen passten auf die Kleinen auf.

Unsere Helden waren die verwegenen Kinderbanden aus dem Film „Der Krieg der Knöpfe“. Wir bewunderten diese etwas verwilderten Kinder, keine Musterschüler, aber äußerst fantasievoll.

Manchmal bin ich ein wenig traurig, wenn ich die Kinder in unseren Städten anschaue. Von frühester Kindheit an werden sie an die Kette gelegt. Bevor sie auch nur stehen können, werden sie schon zum Babyschwimmen gebracht. Häufig frage ich mich, was die jungen Berliner Mütter treibt – obwohl es doch so viel Spaß macht, mit dem Baby im Sonnenschein auf einer Decke im Park zu spielen, verkriechen sie sich in miefige Hallen und hopsen auf Socken um ihre Kleinen herum. Später folgen die beklemmenden Zusammensetzungen mit „früh“: musikalische Früherziehung, Frühenglisch. Seit Pisa Angst verbreitet, verdoppeln die Eltern ihre Anstrengungen.

Die Zeit der Mittelschichtkinder ist verplant wie bei Geschäftsleuten. Damit sie eine „gute Schule“ besuchen können, werden sie morgens im Auto gebracht. Achtjährige Schüler, die nicht zu Fuß zur Schule gehen. Fünfjährige Kinder, die noch nie allein im Supermarkt einen Liter Milch gekauft haben. Kinder, die niemals gelernt haben, ihren Nachmittag selbstständig zu gestalten und sich auch mal zu langweilen. Als wären die Intelligenz der Straße, der soziale Mischmasch, Gewieftheit und Kameradschaftsgeist weniger wertvolle Tugenden.

Pascale Hugues lebt in Berlin. Sie ist Journalistin und schreibt für das französische Magazin Le Point und alle zwei Wochen im Tagesspiegel. Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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