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Panorama: Ich, der Wahlomat

Laurence ist 18 und darf nächste Woche zum ersten Mal wählen. Aber welche Partei? Eine Suche

„Jetzt darfst du wählen“, sagten meine Eltern an meinem 18. Geburtstag und lachten. Sie taten so, als sei wählen gehen ziemlich erwachsen. Dann kam der Brief – meine „Wahlbenachrichtigung“.

Wählen dürfen, das ist eigentlich ein gutes Gefühl. Eigentlich. Habe ich gehört. Aber: Ich habe keine Ahnung, wen oder was ich wählen soll. Europapolitik ist uninteressant. Vielleicht bin ich ignorant, aber mit meiner Ahnungslosigkeit bin ich nicht allein. Viele meiner Freunde wissen nicht, ob sie am 13. Juni überhaupt ein Kreuz machen werden. „Politik ist für den Kopf, nicht für das Herz“, sagen sie. Das europäische System ist ihnen zu kompliziert. Sie fühlen sich nicht ernst genommen von Parteien, die sich mit pseudo-jugendlichen Aktionen anbiedern. Als die PDS vor zwei Jahren mit dem Spruch „Heute popp’ ich, morgen kiff’ ich, übermorgen wähl’ ich PDS“ warb, fand das niemand lustig.

Aber ist die erste Wahl nicht am wichtigsten? Legt man sich nicht zum ersten Mal politisch fest? Natürlich werde ich wählen gehen, denn Nichtwählen bedeutet eine Stimme für die Bösen. „Die Falschen kommen ins Parlament, weil die Richtigen nicht genug Stimmen kriegen“, predigt mein Lehrer. Und es gibt Momente, da haben auch Lehrer mal Recht.

Wie wollen die Parteien mich erreichen? Oder andersherum: Wenn ich wissen will, wofür die Parteien stehen, wie informiere ich mich? Mal sehen, was im Internet steht. Auf der FDP-Homepage lade ich mir den Wahlsong „Frei“ runter: „Frei, endlich frei, ohne Grenzen ein Europa, unsere Kinder vereint im Spiel.“ Was meinen die? Ist Politik nicht eigentlich ernst?

Ich klicke mich zur „Eurokampa“ der SPD weiter. Dort werden schon die Sekunden bis zum 13. Juni abgezählt. Ansonsten setzen die Sozialdemokraten auf Slogans wie „Friedensmacht“ und „Zukunftsgerecht“. Damit kann jeder leben. Aber was genau bedeutet das? Dass die SPD sich aus einem Krieg heraushalten möchte, gefällt mir, doch die Botschaft „Zukunftsgerecht“ könnte sich doch jede Partei auf das Plakat schreiben.

Die CDU-Homepage ist textlastig. „Für die CDU bin ich zu jung“, hat eine Freundin vor ein paar Tagen erzählt. Geht mir auch so: Mir ist das Christentum nicht so wichtig wie der Union. Der Internetauftritt der Grünen ist moderner. Die Texte sind lockerer, aber seltsam („Mit Joschka in die heiße Phase“) und im Jugendportal werden Begriffe wie Genmanipulation erklärt. Die Grünen wirken hier gar nicht wie eine miefige Ökopartei. Vor allem vergessen sie nicht, dass es Erstwähler wie mich gibt, die keine Ahnung haben, für die Politik nur etwas merkwürdige diffuses aus der „Tagesschau“ ist.

„Es reicht“, beschwert sich die PDS. Aber was genau „reicht“? Verstehe ich nicht. Betrifft mich das? Ich bin schön längst Europäer und finde es jedes Mal komisch, eine Landesgrenze zu passieren.

Einmal abgesehen davon, dass ich jetzt weiß, dass die FDP einen schlimmen Musikgeschmack hat, und die SPD Käsekuchenrezepte veröffentlicht, bin ich nicht viel schlauer als vorher. EU-Politik erscheint mir noch komplizierter. Ich will keinen Käsekuchen, sondern, dass die Menschen in Deutschland gleiche Chancen haben. Ich möchte zur Schule und zur Uni gehen und später eine Arbeit finden. Ich möchte in Frieden leben. Dass Rücksicht auf die Umwelt genommen wird. Dass Politiker die Zukunft wichtig finden.

Dasselbe wie meine Eltern wählen, geht das überhaupt? Sie sind 30 Jahre älter als ich. Unwahrscheinlich, dass wir uns noch auf einer politischen Wellenlänge befinden. Sie wählen schon immer ihre Partei und sind damit ganz zufrieden. Oder machen sie sich einfach keine Gedanken mehr? Mein Vater empfiehlt mir den Wahlomaten im Internet. Auf www.wahl-o-mat.de wird anhand von 30 Fragen meine politische Richtung ermittelt. Bei These zehn komme ich ins Stocken: „Anstelle der nationalen Beiträge darf die EU eine eigene Steuer erheben.“ Was, bitte? Und was halte ich davon, jeden europäischen Flug von Waffenträgern begleiten zu lassen? Hm. Gleich wird meine Orientierungslosigkeit politische Zugehörigkeit weichen. Was rauskommt, sag’ ich nicht: Wahlgeheimnis. Soll ich dem Wahlomat folgen? Irgendwie hatte ich mir meine erste Wahl anders vorgestellt: Überzeugt von einer Idee, treffe ich eine Entscheidung. Aber so? Woher weiß ich, das der Wahlomat Recht hat? Ich hätte das alles gerne klarer.

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