zum Hauptinhalt

Panorama: Im Praxistest lernen, was Betriebe erwarten Der neue Trend im Ausbildungsmarkt: Wer eine Lehrstelle will, muss probearbeiten

Dass Probieren über Studieren geht, gilt immer häufiger auch für die Beziehung zwischen Ausbildungsbetrieben und potenziellen Lehrlingen. Statt nur Zeugnisse zu begucken und Bewerbungsgespräche zu führen, werden Bewerber zu Kurzpraktika aufgefordert.

Dass Probieren über Studieren geht, gilt immer häufiger auch für die Beziehung zwischen Ausbildungsbetrieben und potenziellen Lehrlingen. Statt nur Zeugnisse zu begucken und Bewerbungsgespräche zu führen, werden Bewerber zu Kurzpraktika aufgefordert. Eine Schulabgängerin, die Zahnarzthelferin werden will, arbeitete die halben Sommerferien zur Probe, ein angehender Tischler-Lehrling musste in der Tischlerei Peters in Reinickendorf zwei Tage testwerkeln.

„Das hat aber nichts mit Ausbeutung zu tun“, sagt Tischlerei-Inhaberin Rabea Stoltzenburg. „Wir wollen sehen, ob der Bewerber zu uns passt.“ Bei Einstellungsgesprächen und Eignungstests in dem Familienbetrieb verlässt Rabea Stoltzenburg sich nicht auf Zensuren. Ob jemand kreativ ist, sich geschickt anstellt, mit dem Material umgehen kann – das merkt sie am besten nach einigen Probestunden.

Für Schulabgänger hat diese Methode den Vorteil, dass ein schlechtes Zeugnis nicht gleich das Aus am Arbeitsmarkt bedeutet, für die Betriebe vermindert ein Kurzpraktikum die Gefahr, sich einen Lehrling aufzuhalsen, mit dem man dann doch nichts anfangen kann. In dieser Selbsthilfe der Betriebe steckt aber auch ein Vorwurf an die schulische Vorbildung: Die Schüler können zu wenig, es fehlen nicht nur Grundfähigkeiten wie Rechnen und Schreiben, es fehlen auch soziale und kognitive Fähigkeiten.

„Schon wenn man Jugendliche mal bittet, einen Stapel Platten durchzuzählen, erlebt man Überraschungen“, sagt Rabea Stoltzenburg. „Die Mathematikkenntnisse sind unabhängig vom Schultyp oft miserabel.“ Drei Prozent von Hundert – wie ging das noch mal? Auch Personalchefs schütteln den Kopf über die Schwächen im Rechnen und Schreiben. Ärgern sich über mangelnde Flexibilität bei Berufswunsch und Einsatzort. Wundern sich, weil die Eltern beim Einstellungsgespräch dabei sein wollen. Oder zögern, weil sich die Bewerber in Zeiten leichthändiger Internetrecherche als ahnungslos erweisen, was den Job und dessen Anforderungen angeht. Und die werden immer höher. Das kann man an einem Beruf regelrecht hören: am seit Jahrzehnten ungeschlagenen Lieblingsjob der jugendlichen Männerwelt. Der hieß früher einmal Kfz-Schlosser. Dann lernte man Kfz-Mechaniker. Heute wird man Kfz-Mechatroniker. Weil es neben der Mechanik längst auch um sehr viel Elektronik geht.

„Die Technik wird moderner, die Wirtschaft komplexer, das Niveau steigt“, sagt Stephan Schwarz, der Präsident der Handwerkskammer. Und dem sind immer mehr Schüler immer weniger gewachsen. Einst zogen sich zumeist Hauptschüler den Blaumann über, heute sind es Realschüler. Insgesamt erlernten zum Ende vergangenen Jahres 16 500 Jugendliche in Berlin einen handwerklichen Beruf – mit 180000 Beschäftigten liegen die Betriebe der Handwerkskammer damit um drei Prozent über der Richtmarke von sieben Prozent Lehrlingsanteil. „Dieses Jahr konnten wir schon 145 Betriebe neu für die Ausbildung gewinnen“, sagt Handwerkskammer-Präsident Schwarz. Meist mit dem Argument, dass man damit die Zukunft der Firma sichere. Doch das zieht nicht immer. Von den Firmen, die Lehrlinge einstellen könnten, bildet nur noch jede fünfte aus.

Die Profiling-Tests aller gemeldeten Lehrstellenbewerber bei den Berliner Arbeitsagenturen ergaben, dass 40 Prozent der noch nicht vermittelten Bewerber schulische Defizite haben. Auch Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, kennt frustrierte Personalchefs von Warenhäusern und Supermarktketten. Dabei hat gerade der Einzelhandel gute Jobs für Hauptschulabsolventen. Dort haben theoretisch sogar jene eine Chance, die seit Jahren Warteschleifen an Berufsschulen drehen: Wenn sie auf dem Zeugnis keine unentschuldigten Fehlzeiten haben und es ihnen beispielsweise über ein Praktikum gelingt, persönliche Kontakte zum potenziellen Arbeitgeber aufbauen, können sie dort einen Beruf lernen.

Bei der Bildungsverwaltung kennt man die Beschwerden der Wirtschaft. „Wir wissen, dass wir die Qualität der Schulbildung insgesamt verbessern müssen“, sagt Sprecher Kenneth Frisse – etwa durch das neue Netzwerk Hauptschule. In diesem Projekt arbeiten seit Jahresanfang Arbeitsagenturen, Betriebe und Schulen zusammen, um vermittelbare Jugendliche in Ausbildung zu bringen. Auch dort wird zu den Praktika geraten.

Dass die Praxis zählt, gilt auch im Dentallabor Harsdorf in Marzahn. Für einen Ausbildungsplatz meldeten sich dort 150 Bewerber. Vor dem Gespräch werden alle Kandidaten zum mehrstündigen Probearbeitskurs eingeladen. „Wir haben auch schon Realschüler mit schlechten Noten eingestellt, weil sie äußerst filigran arbeiten konnten“, sagt Geschäftsführer Rüdiger Harsdorf. Er hat aber auch schon Auszubildende verloren. Weil Abiturienten doch an die Uni gewechselt sind. Oder weil sich Jugendliche wegen der schlechten Aussichten mehrfach bewerben – und doch beim Traumberuf Glück hatten. Malermeisterin Heidi Trompke aus Reinickendorf bricht eine Lanze für die Jugend von heute. „Meine Lehrlinge nehmen sogar Anfahrtswege von zwei Stunden ohne Murren in Kauf, dass sie weniger verdienen – und manchmal sogar fegen müssen.“

Annette Kögel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false