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© Mike Wolff

Jugendgewalt: Crashkurs Knast

Felix und Torte sitzen im Jugendarrest in Lichtenrade. Für sie ist es eine Art letzte Warnung.

Das Zimmer ist karg und hat kahle Wände. Auf wenigen Quadratmetern stehen Bett, Schrank, Tisch und Stuhl eng beieinander. Die Tür ist meist verschlossen, das kleine Fenster vergittert. Schräg gegenüber verbringen alte Menschen ihren Lebensabend im Heim, ringsum sind Wohngebäude. Draußen brummt Alltagslärm, aber hinter den Mauern der Arrestanstalt Lichtenrade am Rand von Berlin ist es ruhig, geradezu erschreckend still.

An einem runden Tisch im Gruppenraum der Arrestanstalt sitzen Berzeka, Burghard, Klausi, Felix, Torte und Momo, die im Alltag natürlich anders heißen. Sie sprechen über ihre Zukunft. Über Geld, das zum Leben reicht. Über eigene gesunde Kinder. Und darüber, dass sie einmal etwas erreichen wollen im Leben. „Im positiven Sinne wäre ich gerne ein Märtyrer“, sagt Berzeka. Torte schüttelt den Kopf: „Du Träumer. Alle, die die Welt retten wollten, sind tot.“

Die Jungs sind zwischen 15 und 21 Jahren, neben ihnen sitzt Arrestleiter Thomas Hirsch und hält gerade einen Kurs ab, den er „Modulares Kompetenztraining“ nennt. Die Teilnehmer sollen lernen, sich ihrer Fähigkeiten aber auch ihrer Probleme bewusst zu werden. Das Training ist ein bisschen wie Schule: Der Lehrer stellt Fragen, die Schüler melden sich und fallen sich gegenseitig ins Wort. Nur dass Hirsch von Beruf Jugendrichter ist – und so etwas wie Sozialarbeiter.

Felix hat einem Typen die Zähne ausgeschlagen und Momo den Bademeister im Schwimmbad verprügelt, weil der ihn genervt hat, am Beckenrand seine Schuhe auszuziehen. Auch Berzeka und Torte sitzen ein, weil sie ihre Wut nicht kontrollieren konnten. Klausi wurde wegen Sachbeschädigung verurteilt. Mit Arrestleiter Hirsch diskutieren sie ihr Verhalten. Sie erklären, was sie im Alltag wütend macht: das Gefühl, nichts zu taugen; dass sie aus zerrütteten Familien oder dem Heim kommen; dass sie nie gelernt haben, wie Streiten funktioniert. „Da sind viele Steine, die wir uns selbst aus dem Weg räumen müssen“, sagt Torte.

Im Arrest geht es nicht um Sühne, sondern um Erziehung. Rund 1500 Jungs und Mädchen kommen jährlich nach Lichtenrade. Ihnen stehen 54 Plätze in zwei Gebäuden zur Verfügung. Hirsch und sein Team organisieren regelmäßige Gesprächsstunden, zudem gibt es das einwöchige modulare Kompetenztraining zu Themen wie Gewalt, Sucht oder Zukunft. „Hier im Arrest packen wir die Jugendlichen bei ihrer Langeweile, um Themen zu besprechen, über die sie draußen nicht nachdenken würden.“

Momo würde seinen Kindern später niemals erzählen, dass er im Jugendarrest gewesen ist. Berzeka sagt, er wolle seine Kinder niemals schlagen. „Das hat mein Vater oft genug getan. Enttäuschung macht dich so wütend. Dieses Gefühl kenne ich, seit ich klein bin.“ Der 17-Jährige weiß, dass das keine Entschuldigung für sein Vergehen ist: „Aber ich habe verdammt viel geschluckt, und was man in sich hineinfrisst, das kommt irgendwann raus.“ Der 20-jährige Burghard kennt dieses Gefühl der Wut sehr genau: „Du merkst, wie die Spannung in dir hochsteigt und du eigentlich weggehen willst, aber dein Gegenüber reizt dich so sehr, dass es passiert.“ Für Momo haben Schläge noch eine andere Bedeutung. Sein Vater und er hätten sich viel gestritten. „Ich habe oft geweint. Draußen habe ich mir dann den Frust von der Seele geboxt. Du hast das Gefühl, dass das dich ruhig macht.“ Er müsse jetzt lernen, sich zu überwinden. Außerdem wolle er nicht ins Gefängnis kommen.

Für die sechs Jungs beginnt der Tag morgens um viertel vor sieben, am Wochenende um acht. Nach dem Frühstück werden die Zimmer geputzt, dann geht es zum Kompetenztraining. Diejenigen, die nicht für die Modulwoche ausgesucht wurden, müssen wieder in ihre Zelle. Ab 15.30 Uhr gibt es Freizeit für alle, in der Tischtennis oder Fußball gespielt oder im Gruppenraum ferngesehen wird. Nur wer zur Schule geht oder eine Lehrstelle hat, darf tagsüber die Anstalt verlassen. Besuch ist erst nach mehr als zwei Wochen Arrest erlaubt. „Wer fleißig mitarbeitet und sich sozial verhält, hat abends länger Freizeit“, sagt Hirsch. Das heißt statt 18 Uhr bis 21 Uhr draußen bleiben zu dürfen und danach erst aufs Zimmer zum Nachtverschluss zu müssen.

Im Jugendarrest sehen viele nichts anderes als Knast auf Probe. Das ist falsch. Bei kleineren Delikten gibt es meistens Maßregeln wie Sozialstunden oder Geldbußen. Der Arrest wird für ein oder zwei Wochenenden oder als Dauerarrest für ein bis vier Wochen verhängt. Juristisch gesehen ist er keine Strafe, sondern die strengste aller erzieherischen Maßnahmen. Er soll „das Ehrgefühl des Jugendlichen wecken und ihm bewusst machen, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat“, heißt es im Jugendgerichtsgesetz. Er ist ein Vorgeschmack auf das, was den Jugendlichen droht, wenn sie nicht einlenken: eine Haftstrafe im Jugendgefängnis.

Wann sich ein Jugendrichter für den Arrest entscheidet, hängt vom Einzelfall und der Schwere des Vergehens ab. Meistens wird er angeordnet, wenn es sich um Verfehlungen wie Unachtsamkeit etwa bei einem fahrlässigen Verkehrsunfall handelt oder jugendlichen Übermut etwa bei Sachbeschädigungen aus „purer Lust“. Eine Faustregel lautet jedoch: Wer schlägt, sitzt. Körperverletzung und Eigentumsdelikte sind die häufigsten Delikte, wegen denen die Jugendlichen nach Lichtenrade geschickt werden.

Felix ist den Abend vorher in seinem Zimmer ausgeflippt. Er hat getobt, geschrien und gegen die Wände gehauen, weil er die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte. Der 16-Jährige ist der Jüngste von allen. Er ist von zu Hause rausgeflogen, weil er zu aggressiv gewesen ist. „Ich habe da jetzt Hausverbot, meine Mutter will mich eh nicht mehr haben.“ Zur Schule geht er seither nicht mehr. „Geh wieder dorthin, nutze das hier als Neuanfang“, rät ihm Torte, der mit 21 Jahren der Älteste ist. Für die anderen ist er so was wie ein großer Bruder.

Arrestleiter Thomas Hirsch freut sich über so viel Fürsorge und Zusammenhalt. Er sei glücklich, dass die Jungs die Diskussion selbst steuern. Der beste Effekt werde dadurch erzielt, dass sie sich untereinander maßregeln und austauschen, „und nicht, dass einer wie ich vor ihnen steht und ihnen erklärt, was richtig ist und was falsch.“

Die Langeweile im Arrest zur Gewohnheit machen, rät Torte dem jungen Felix für die kommenden zwei Wochen. Dann sei es auszuhalten. „Im Leben kannst du keine Einladung erwarten, und es ist nicht immer fair. Das müssen wir akzeptieren lernen.“

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