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Auf dem Weg nach oben. Sinan Akdeniz studiert Medizin und Wirtschaftsingenieurswesen. Er bekommt ein Stipendium für Hochbegabte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Karriere: Der Aufsteiger

Seine Eltern sind arbeitslos, alle Statistiken sprechen gegen ihn. Sinan Akdeniz macht trotzdem Karriere.

Es gibt Menschen, von denen glaubt man, sie wären als Kind in einen Brunnen voller Glückseligkeit gefallen. So wie Obelix in den Zaubertrank. Richtige Glückskinder. Alles, was sie anfassen, wird zu Gold. Wenn Sinan Akdeniz – grauer Mantel, blau-weiß gestreiftes Hemd – über den Campus der Charité läuft, denkt man: So sieht ein Überflieger aus. Siegerstrahlen. Gewinnergestik. Einer, dem immer alles gelingt. Sky’s the limit.

Sinan würde das so nie sagen, aber bisher ging es für ihn immer nur in eine Richtung: nach oben. An der Charité studiert er Medizin, an der TU Berlin macht er gleichzeitig einen Bachelor in Wirtschaftsingenieurwesen. Ein Jahr lang forschte er an der Harvard Medical School in Boston an einer seltenen Knochenkrankheit, die Hans-Böckler-Stiftung fördert ihn mit einem Stipendium für Hochbegabte. Außerdem spielte er Nebenrollen in großen Fernsehproduktionen wie „München ’72“ oder „Türkisch für Anfänger“. Und das alles mit 24. Als Sinan 1987 in Kreuzberg geboren wurde, hätte wohl kaum einer eine solche Karriere für möglich gehalten. Alles sprach gegen ihn, seine Herkunft, sein Elternhaus. Doch Sinan hat all die Statistiken widerlegt, die ihm nur eines voraussagten: sein Scheitern.

Das deutsche Bildungssystem ist eines der ungerechtesten überhaupt. Nirgendwo sonst in Europa hängen schulischer Erfolg und sozialer Aufstieg so sehr vom Geld und Status der Eltern ab. Zwei Drittel aller Studierenden sind Akademikerkinder, nur zwei Prozent kommen aus Familien mit einfacher Bildung. So wie Sinan. Anfang der 80er Jahre kamen seine Eltern aus der Türkei nach Kreuzberg, in den Gräfe-Kiez . Berlin bedeutete für sie Verheißung und versprach Wohlstand, wie für so viele aus der zweiten Einwanderungswelle. Sinans Vater hatte sich in Ostanatolien als Tagelöhner durchgeschlagen, in Berlin schuftete er auf dem Bau, bis ihn ein Unfall zur Berufsunfähigkeit verdammte. Sinans Mutter war Putzfrau. Seit mehr als zehn Jahren sind beide arbeitslos, das Geld überweist der Staat. Es sieht nicht so aus, als würde sich das noch einmal ändern. Einen Beruf haben sie nie gelernt. Hartz IV bis zur Rente.

Es gibt kaum ein Wort, das Sinan lieber gebraucht als das Wort „Weg“. Einen Weg gehen, seinen Weg machen. Für ihn ist das ein Synonym für aufsteigen, von ganz unten nach ganz oben. „Aufstieg durch Bildung“, sagt er, das könnte man als Motto über seinen Werdegang schreiben. Die Bildung ist sein Sprungbrett, der Ehrgeiz sein Antrieb. Sinan sagt: „Andere haben bessere Startbedingungen, aber entscheidend ist, seine Ziele ambitioniert zu verfolgen.“ Niemand ist ehrgeiziger als diejenigen, die von ganz unten kommen. Sinan hat schon viele überholt, weil er schneller ist als andere, weil er schneller begreift. Seine Geschichte zeigt, dass man trotz Chancenungleichheit erfolgreich sein kann. Wenn man Biss hat, Begabung und Fleiß.

Das Milieu, in dem Sinan aufwächst, würden Politiker so beschreiben: Menschen mit Migrationshintergrund, bildungsfern, sozial schwach. In den 90ern ist der Gräfe-Kiez noch tiefstes, raues Kreuzberg. Ein vergessenes Viertel, in dem Eltern ihren Babys keine T-Shirts mit der Aufschrift „Abi 2007“ kaufen. Die Jugendlichen dort, oft aus türkischen und arabischen Familien, bleiben doppelt so häufig ohne Abschluss, sind doppelt so häufig arbeitslos und werden doppelt so häufig kriminell. Viele, die hier groß werden, lernen erst gar nicht, sich in der Schule anzustrengen; wissen nicht, wie es ist, für gute Leistungen belohnt zu werden. Für einige scheint der schnelle Weg zum Geld verlockender: das was Jugendliche ohne Perspektive für ein Gangsterleben halten, die schiefe Bahn, Diebstahl oder Drogen. Die Überflieger, das sind immer die anderen, die Bonzenkinder aus Zehlendorf oder Charlottenburg. Erfolg als Erbe. Misserfolg qua Geburt.

Wenn Sinan redet, wirkt er sehr kontrolliert, seine Worte wählt er behutsam, so als wollte er bloß keinen Fehler machen. Bildung wurde großgeschrieben bei ihm zu Hause, erzählt er und sein blendend weißes Zahnpastalächeln blitzt auf, die Augen leuchten. Ein Blick, dem man kaum standhalten kann. Selbstbewusst, aber nicht großkotzig. Auch wenn seine Eltern ihm nur selten bei den Hausaufgaben helfen konnten, hätten sie immer großen Wert darauf gelegt, deutsch zu sprechen mit ihm und seinen vier Geschwistern. Drei von ihnen studieren, die Jüngste macht ihr Abitur. Über ihr Leben in der Türkei haben seine Eltern nie viel erzählt. Nur eines haben sie ihren Kindern eingetrichtert: Dass es besser ist mit dem Kopf zu arbeiten als mit den Händen. Man könnte sagen, die Akdeniz’ seien nicht integriert. Dabei haben sie alles in die Bildung ihrer Kinder investiert, mehr kann man eigentlich nicht machen.

Als Sinan eingeschult werden soll, erkundigt sich sein Vater beim Bezirksamt: „Welche Schule ist die beste hier?“, und schickt seinen Sohn auf die Lemgo-Grundschule. Nach sechs Jahren die Frage: Wie geht’s weiter? Sein Vater empfiehlt ihm ein englischsprachiges Gymnasium, das Austauschprogramme mit Schulen in New York und London anbietet. Sinan sträubt sich erst, er will Kreuzberg nicht verlassen, entscheidet sich aber schließlich für die Sophie-Charlotte-Oberschule in Charlottenburg. Dort trifft er neue Leute, Jugendliche, deren Väter Diplomaten oder Manager sind. Sinan passt sich schnell an. Wo er herkommt, spielt keine Rolle. Nur wenn die anderen nach den Sommerferien von Reisen nach Südafrika oder Wüstentouren in Dubai erzählen, wird er still.

Heute ist Sinan ein Weltreisender. Gerade ist er von den Seychellen zurück, wo er in einem Krankenhaus gearbeitet hat, demnächst geht’s nach Luxemburg für ein Praktikum bei der Europäischen Kommission. Könnte sein, meint Sinan, dass er da etwas kompensieren wolle. Die Welt, in der Sinan jetzt lebt, ist eine Welt, die seine Eltern nicht mehr verstehen. „Warum gehst du weg?“, fragen sie. „Du hast hier doch alles, was du brauchst.“ Die nächste Zeit ist fest durchgeplant: Doktor in Medizin, Bachelor und Master in Wirtschaftsingenieurwesen, nebenbei das praktische Jahr als Arzt, zwei Monate Paris, zwei Monate Melbourne, vier Monate Schanghai. 2014/15 will er fertig sein, dann in der Gesundheitspolitik arbeiten und später als Arzt, genau weiß er das noch nicht.

Und dann ist da noch die Schauspielerei, sein liebstes Hobby. Meist wird er als Gangster oder Drogendealer besetzt, die typische Kanaken-Schublade. Den Getto-Slang und die Mackerposen hat Sinan drauf. Aber: Er spielt sie nur. Von Kreuzberg hat er sich schon lange gelöst. Der Karriere-Fahrstuhl rast nach oben, die Frage ist: Wo hält er an?

Wenn Eltern große Erwartungen in ihre Kinder setzen, dann kann das eine Bürde sein. Sinan aber ist an der Last, die auf seinen Schultern ruht, nicht zerbrochen; er scheint sie gar nicht zu spüren. Wenn seine Eltern stolz auf ihn sind, dann freue er sich, sagt er. Das ist alles.

Nach knapp zwei Stunden muss Sinan los, er ist verabredet mit seinen Eltern, Mama hat gekocht. Außerdem muss er beim Hausmeister anrufen, weil die Fenster ziehen, einen Blick auf die Hartz-IV-Anträge werfen und einem alten Kumpel bei einer Bewerbung helfen. Anstrengend findet Sinan das nicht. „Ich bin so aufgewachsen“, sagt er achselzuckend, bevor er in die U-Bahn steigt. Ein Blick auf die Uhr, perfekt in der Zeit. Alles läuft nach Plan.

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