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Panorama: Mit Behinderung ist zu rechnen

Die Grundschule am Rüdesheimer Platz ist eine Vorzeigeschule zur Integration von Kindern mit Handicap Jetzt soll sie mit weniger Lehrern auskommen. „Was funktioniert, wird kaputtgemacht“, sagt die Leiterin

Als Yalcin in die erste Klasse kam, konnte er kein Deutsch. In seinem Gedächtnis hatten sich vor allem Bilder von Gewalt breit gemacht. Jetzt, drei Jahre später, hat sich der türkische Junge zum ersten Mal eine Geschichte ausgedacht, in der es nicht um Grausamkeiten und Tod geht. Die Lehrer sind begeistert. Dass Yalcin (Name geändert) Fortschritte macht, liegt daran, dass er Glück hatte. Er wurde in der Grundschule am Rüdesheimer Platz in Wilmersdorf eingeschult, in einer Schwerpunktschule für die Integration Behinderter, für Kinder „mit besonderem Förderbedarf“.

In Yalcins Klasse sitzen 19 „normale“ Kinder neben fünf, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, um voranzukommen. Ein Junge kann sich nur schwer konzentrieren und löst etwas abseits seine Aufgaben. Ein anderer hat einen fehlgebildeten Arm. Mit Hilfe der Lehrer hat er seinen eigenen, nicht minder effizienten Schreibstil entwickelt. Wiederum andere trainieren den deutschen Satzbau besser, wenn sie dazu nicht Füller und Papier verwenden, sondern ein Spiel, das sie in einer Ecke des Klassenraums auf dem Boden ausbreiten. Und dann sind da noch die Schüler, deren größte Leistung es ist, ihre Aggressionen zu beherrschen.

Zwei Lehrer unterrichten gleichzeitig in der Klasse 3a. Heute ist noch eine weitere Lehrerin im Klassenzimmer. Sie ist pensioniert und kommt trotzdem an vielen Tagen, um ganz alleine mit Yalcin das Aufsatzschreiben zu üben. Zwei oder manchmal sogar drei Lehrer für 24 Schüler ist ein Schnitt, von dem viele Pädagogen in Berlin träumen. In Wilmersdorf am Rüdesheimer Platz ist er seit 20 Jahren Wirklichkeit. Damals hatte die Bildungsverwaltung beschlossen, dass es pädagogisch sinnvoller sein kann, behinderte Kinder in „normalen“ Klassen zu unterrichten, als sie in Sonderschulen zu konzentrieren. Für die schwierigen Kinder wurden zusätzliche Lehrer zugeteilt, es sprach sich herum, dass es in der Grundschule am Rüdesheimer Platz mit der Integration gut klappt, die Schule wurde zu einem Vorbild. Heute schicken Eltern ihre Kinder gerne hierher, egal wie schwierig sie sind. „Das Konzept geht aber nur auf, wenn genügend Lehrer da sind“, sagt Ulrike Fütterer-Schumann, die Schulleiterin.

Dass sie vermutlich Recht hat, zeigte sich vor ein paar Tagen. Es wurde bekannt, dass immer mehr Kinder, die es durch Lernbehinderungen eh schon schwerer haben als andere, in der Psychiatrie landen, weil sie im Zuge der neuen Grundschulreformen in Klassen eingeschult wurden, wo sich nicht genügend Lehrer um sie kümmern können.

Schulleiterin Ulrike Fütterer-Schumann fürchtet, dass es an ihrer Schule auch bald große Probleme geben wird. Denn während der Anteil der Kinder mit besonderem Förderbedarf unter den Berliner Schülern steigt, ist das Geld und damit die Anzahl der zusätzlich bewilligten Sonderpädagogen und Lehrer seit fünf Jahren gleich geblieben: 1209 Stellen für ganz Berlin. 5,1 Prozent eines Schülerjahrgangs brauchen besondere Unterstützung. Das ist der Bundesschnitt. In Berlin sind es 5,7 Prozent.

,„Die Rahmenbedingungen haben sich kontinuierlich verschlechtert“, sagt die Schulleiterin. Jetzt aber seien die Kürzungen so groß, dass das ganze Konzept zu „kippen“ drohe: Kommendes Schuljahr sollen unabhängig von der Frage, wie viele Kinder mit welchen Schwierigkeiten bei ihr eingeschult werden, die für die Betreuung der Schwierigen zusätzlich bewilligten Lehrerstunden von 254 auf 196 gekürzt werden, das ist etwa um ein Viertel. „In so vielen Teilen Berlins läuft es schlecht. Jetzt macht man auch noch das kaputt, was funktioniert.“

Der Grund für die Kürzungen: Die Bildungsverwaltung und die Bezirke wollen die 1209 Stellen anders verteilen als bisher. Der Ost- und der Westtteil der Stadt sollen gleichermaßen profitieren. Bisher seien die meisten zusätzlichen Lehrer an den Schulen im Westen eingesetzt worden, heißt es in der Behörde.

Mit den Kürzungen wäre Teamarbeit im Unterricht nur noch in zwölf von 31 Stunden pro Woche möglich, sagt Fütterer-Schumann. Das aber reiche nicht, weil es viele Kinder gibt, die ständig jemanden neben sich brauchen. Auch die kleinen Basis-Lerngruppen für die behinderten Kinder, in denen alltägliche Fähigkeiten wie Fühlen, Schmecken oder Motorik trainiert werden, seien dann kaum noch möglich. Gerade aber in solchen Gruppen könne man feststellen, wo die Stärken und Schwächen der Einzelnen seien.

„Die Schule ist ja gerade deshalb so beliebt, weil die Lehrer jedes Kind im Blick haben“, sagt Christian Gedschold, Vater eines Drittklässlers. „Die kriegen die Fehlentwicklungen sofort mit und sehen, wenn ein Kind zu Hause geprügelt wird.“ Er hat seinen Sohn bewusst auf die Schule geschickt, damit er Mitgefühl lerne und sehe, „dass andere Begabungen nicht schlechter sind als die eigenen und dass man auf unterschiedlichen Wegen zum Ziel gelangen kann“. Etwa wenn ein Mitschüler ohne Arme mit den Füßen bastle. Die Befürchtung vieler Eltern, dass behinderte Kinder den Rest der Klasse „runterziehen“, sei unbegründet. Im Gegenteil, ergänzt die Schulleiterin, gerade die Klassen mit Integrationskindern erzielten sehr gute Ergebnisse im Berliner Vergleich.

„Durch die Kürzungen wird irgendjemand benachteiligt werden, entweder die Förder-Kinder oder die anderen“, sagt der Vater. „Das werden wir nicht hinnehmen.“ Deshalb sind Eltern, Lehrer und Schüler vor ein paar Wochen ins Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf gezogen, um sich beim Schulrat zu beschweren. An Bildungssenator Klaus Böger (SPD) sowie an die Bildungsexperten der Fraktionen im Abgeordnetenhaus haben sie Briefe geschrieben. Antworten haben sie keine erhalten.

„Natürlich wollen wir zusehen, dass jedes Kind mit Behinderung versorgt wird“, sagt Bögers Sprecher Kenneth Frisse. Aber die Ausstattung könne nicht erhöht werden. „Die östlichen Bezirken haben Nachholbedarf“, ergänzt Peter Hübner. Er ist in der Bildungsverwaltung für die Integration behinderter Kinder zuständig. Die Schulen im Westen, darunter die am Rüdesheimer Platz müssten einen Solidarbeitrag leisten. Außerdem würden die Lehrer auf „hohem Niveau“ klagen. Dass die Grundschule am Rüdesheimer Platz noch keine Antwort bekommen habe, liege daran, dass die Verhandlungen mit dem Finanzsenator noch nicht abgeschlossen seien. Vielleicht gibt es also doch noch Hoffnung.

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