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Netz-Bekanntschaften: Gemeinsam einsam

Vom Einzelgänger zum Cliquen-Star: Warum wir im Internet schneller Freunde finden als im wahren Leben

Amira hat 252 Freunde in ganz Deutschland. Um Sarah als 253. Cliquenmitglied aufzunehmen, reicht ein Mausklick: Nur ein paar Minuten später weiß die 15-Jährige, welche Schule ihre neue Freundin besucht, was für Hobbys sie hat und wie ihre Urlaubsfotos aussehen.

Kwick, StayFriends, Frobbel, Facebook, Lokalisten, My Space: Social Communities, zu Deutsch soziale Netzwerke, gehören heute für viele zum Alltag. SchülerVZ und goolive heißen die Internet-Seiten, auf denen Amira und ihre Freundin Djenaba regelmäßig das Neueste aus dem Leben der anderen erfahren. Sie „adden“ Klassenkameraden, Freunde von Freunden und User mit gleichen Interessen. Die lernen sie auf SchülerVZ in Gruppen wie „Hip-Hop-Tanzen“ oder „Ich nehme keine Drogen – ich bin so“ kennen. „Das sind nicht alles meine richtigen Freunde, aber bei anderen zu stalken bringt einfach Spaß“, sagt Amira.

Bei den meisten Netzwerken gelten ähnliche Regeln wie auf dem Schulhof: Jeder versucht, sich möglichst lässig in Szene zu setzen. Selbstdarstellung ist alles im Netzwerk. Der Online-Coolness-Faktor ergibt sich aus hochgeladenen Fotos oder der Mitgliedschaft in angesagten Gruppen Gleichgesinnter. In der Social Community gibt es keine Einzelgänger, zumindest nicht auf den ersten Blick. Das Netzwerk macht alle gleich. Oder zu demjenigen, der man sein will. „Die eigene Identität kann bewusster konstruiert werden als in der realen Welt. Das mache den Reiz aus“, sagt der Vorsitzende des Instituts für Jugendkulturforschung, Bernhard Heinzlmaier. Außenseiter fänden Freunde, weil sich ihr Suchraum vergrößert habe.

„Wenn mich eine Gruppe anspricht, trete ich ihr bei“, sagt Johanna. So hat die 13-Jährige auch ihre beste Chat-Freundin kennengelernt, die in einer anderen Stadt lebt. „Ihr kann ich alles sagen, weil sie es niemandem weitererzählen kann, der mich kennt.“ Johanna hat insgesamt 39 Freunde und ist Mitglied in 51 Gruppen. In ihrem Profil beschreibt sie sich selbst als Streberin, die gerne Geschichten schreibt und Farin Urlaub von den Ärzten mag. „Ich bin nicht so der oberdurchschnittsnormale Schüler und habe mich mit meiner Klasse nie so richtig verstanden. Da war es schön, Leute im SchülerVZ zu haben.“

So sieht das auch Andrea*, 15. „Ich habe keine richtigen Freunde außerhalb des Internets. Wenn ich genau darüber nachdenke, habe ich hier bessere Freunde.“ Andrea gehört der Gruppe „Einzelgänger, dann wird man nicht verletzt“ an. Im Themenforum „Warum ihr Einzelgänger seid“ berichtet sie ausführlich über ihr Verhältnis zu ihrer Mutter, deren Lebensgefährten und ihren Freunden, die in Wirklichkeit keine seien. Micha hat ihr geantwortet. Auch er hält größere Stücke auf seine virtuellen Freunde als auf die realen, obwohl er manche von ihnen erst einen Monat kennt.

Wer sich in sozialen Netzwerken umschaut, trifft Menschen, die scheinbar gedankenlos von ihrem Leben berichten. Nicht alle Informationen über sie sind schwerwiegend, viele banal, aber alle sind privat. Während sich Jungs oft provokant cool geben, präsentieren sich Mädchen nicht selten als begehrenswerte Frauen – gern auch im Bikini. „Manche laden ihre Bilder nur hoch, um Komplimente zu bekommen und ihr Selbstbewusstsein zu pushen. Aber es gibt auch welche, die haben richtige Probleme“, sagt Amira.

Die Christiane*, 14, ist eine davon. Sie mag Bücher und ihr Lieblingsspruch lautet: „Ich gehe durch die leeren Straßen… suche nach mir selbst, suche nach dem Sinn. Fühle mich einsam, fühle mich leer.“ Sie hat 80 Freunde an ihrer und 138 an anderen Schulen in Deutschland. In ihrem Profil schreibt sie: „Ich bin sehr gut im Verdrängen meiner Gefühle. Ich versuche, mich nicht in den Vordergrund zu drängen, aber dennoch anders zu sein als alle anderen.“ Christiane ist Mitglied der Gruppe „Ich hasse mein Leben aus einem Grund, den Du nicht kennst“. Mit ihr tummeln sich hier 741 Mitglieder. Im dazugehörigen Forum „Welche Gründe habt ihr“ berichtet sie von ihrer alkoholkranken Mutter und darüber, wie hässlich sie sich findet. Ein anderes Mädchen erzählt von seinen Essstörungen.

Die Offenheit der Jugendlichen im Netz erklärt Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier als modernes Phänomen einer sich psychologisierenden Gesellschaft, die durch das Internet befördert würde. Es sei ein bisschen wie eine Therapie, bei dem das Individuum mehr Mittel habe, sich selbst zu reflektieren. „Äußerlichkeiten werden zweitrangig, die Sprache psychologisiert. Man gibt etwas von sich preis, damit die anderen darüber nachdenken und mir damit helfen.“ Dieser Effekt bringt aber nicht nur Vorteile.

Jenny ist 13 Jahre alt. Auf dem Foto der Studi-VZ-Gruppenseite „Jenny W., weil wir Dich hassen“ beißt sie genüsslich in einen Burger. Über ihrem Foto prangt die Aufschrift: „Diese Hure wird sehen…dem Opfer zeigen wir’s.“ Im Forum lassen sich an die 20 Mädchen und Jungs über Jenny aus. Sie kommen fast alle aus derselben Schule. „Debby-Schatz, kennst Du den Satz von S.I.D.O.? Opfer wählen die 110. Jetzt wählen Opfer die 0177…“ Dahinter steht Jennys Nummer, die sofort wieder auflegt, wenn sie angerufen wird. Denn Jenny hat die Gruppe weder gegründet noch die vielen Bilder von sich hochgeladen. Jenny ist ein sogenanntes Cyber-Bulling-Opfer. Das ist der Trend, andere im Internet bloßzustellen, lächerlich zu machen oder zu verleumden.

„Mobbing hat es an Schulen zu allen Zeiten gegeben, nur dass die Bühne jetzt größer geworden ist und es im Internet keine Rückzugsmöglichkeit gibt“, sagt Bernhard Heinzlmaier. Das gesprochene Wort sei vergänglich, im Internet sei es wie in Stein gemeißelt. Um sich zu schützen, überlegen Amira und Djenaba genau, mit wem sie Informationen teilen und zu welchen Bedingungen. „Bei manchen Communities habe ich kein Foto hochgeladen, auf dem man mich erkennt. Bei anderen lasse ich nur Kontakte von engen Freunden zu“, sagt Amira. Je länger man online sei, desto besser wüsste man Bescheid, wie es läuft. Zum Beispiel, dass man fiktive Angaben macht.

„Ich suche nur Menschen, mit denen ich reden kann, wenn es mir schlecht geht“, schreibt „das träumende Mädchen“. Sie hat 183 Freunde, die fast alle einen erfunden Namen tragen. Ihre Freundin, die Einzelgängerin, schreibt: „Ja, ich bin eines dieser Mädels, die einen zweiten Account gründen, um einfach mal alles sagen zu können, was ihnen fehlt. Es tut gut, wenn man in alle Gruppen gehen kann, die einen ansprechen. Keiner will sein Herz vor den durchschnittlich 150 Freunden ausschütten.“ Im Forum teilen die imaginären Freunde ihre Probleme – meistens geht es um Liebe. Und stets findet sich der Vermerk: „Ich freue mich über Freundschaftseinladungen und Nachrichten von Dir.“

* Name von der Redaktion geändert

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