zum Hauptinhalt

Panorama: Proben fürs Leben

In einem Marzahner Plattenbau üben 80 Bands. Jetzt soll das Haus verkauft werden. Ein Besuch

Straße 13, Nummer 20. Diese Adresse klingt nicht besonders aufregend. Und dann noch ein Plattenbau, sieben Stockwerke hoch. Das Haus steht in der Marzahner Peripherie, in einer Nebenstraße der Landsberger Allee, umgeben von ein paar anderen altersschwachen Platten. Hier hat sich also Jeanette Biedermann vor ein paar Monaten auf ihre Tournee vorbereitet.

Aber um Jeanette soll es hier nicht gehen. Sondern um Proberäume. Davon gibt es nämlich im Orwo-Haus genug. Für Frank, Marcel und Matthias ist das Haus wie gemacht. Ihre Band heißt „Señor Tourette“, sie spielen Stoner-Rock. Musik, die nach mächtig schweren Steinen, nach Weite und Ödnis klingt. Und in einem Stück gibt es einen süßlichen Gitarrenpart, der sich anhört, als habe man den Sonnenuntergang in Töne umgewandelt, der sich im Sommer kitschig-schön auf das Dach im ersten Stock legt.

Bis zur Wende wurde im Orwo-Haus Fotopapier hergestellt. Jahrelang stand das Haus leer. Inzwischen proben Punkbands hier und Klavier spielende Musikstudenten. Hobbymusiker neben Profis.

„Die Räume sind billig wie sonst nirgends in der Stadt. Die Bands zahlen um die drei Euro für den Quadratmeter. Dafür, dass sie rund um die Uhr proben können“, sagt Andreas Otto. Er hat seine braunen Haare zu einem langen Zopf zusammengebunden. Er ist 20 und Schlagzeuger einer Band, die sich „Dropped“ nennt und Progressive Rock macht. „Außerdem wird sich nie ein Nachbar über zu laute Musik beschweren. Weil es keine Nachbarn gibt.“ Was es zudem nicht gibt, jedenfalls nicht offiziell, sind Idioten oder Spießer. Oder Superstreber.

Sie alle sind Musiker, die Musik lieben. So sehen sie das. Manche sind halt heftiger verknallt. Und die wissen, dass manche Bands ein- oder zweimal die Woche zum Proben kommen und danach wieder gehen. Sie verstehen die Gründe: Arbeit, viel zu tun. Aber richtig nachvollziehen können sie es trotzdem nicht. Andreas Otto ist so einer, der noch nach den Proben mit anderen Musikern zusammensitzt, über Effekte, Läufe und Soli spricht und dann im Proberaum schläft. „Kommt schon vor, dass ich eine Woche lang kaum bei meinen Eltern bin. Es ist jetzt so eine Zeit, in der wir reifen. Wir lernen viel von den anderen Bands, die sich unsere Sachen anhören und uns Tipps geben“, sagt er.

Vielleicht muss man es so sehen: Das Orwo-Haus ist wie ein exklusiver Club, in den coole Leute gehen und die uncoolen haben eben die Aufnahmeprüfung nicht geschafft.

Anna, Rebecca und Cindy haben die Prüfung bestanden. Die „Terrifics“ sind die Jüngsten dort. Sie waren mal eine Mädchen-Rockband. Jetzt haben sie einen Gitarristen, der ihnen „das Gezicke im Proberaum abgewöhnt hat“. Und den Mädchen-Rock gleich mit. „Jetzt gehen wir eher in Richtung Muse oder Placebo.“ Und dann sagen sie noch etwas, was man so oder so ähnlich oft hört in der Marzahner Musikerplatte: „Es geht uns um die Musik. Um das Glück, das man empfindet, wenn man merkt, wie die eigenen Songs wachsen.“ Muss eine Art Seelenverwandtschaft sein hier im Haus, sagt Rebecca, die Bassistin. „Seit wir hier proben, hat sich unser Freundeskreis total verändert. Es gibt kaum noch jemanden, der nicht in einer Band spielt.“

Es geht auf Mitternacht zu. Andreas Otto sitzt in der Lounge im vierten Stock. Schicke Sofas, orangefarbenes Licht, Flachbildfernseher an der Wand. Er wirkt müde. Das Leben im Paradies ist ziemlich anstrengend geworden, seit er befürchten muss, daraus vertrieben zu werden. Die Immobiliengesellschaft, der das Haus gehört, hat kürzlich die Mietverträge gekündigt. Wegen Brandschutzmängeln. Sie will die Platte nicht sanieren lassen, sondern verkaufen. Um das zu verhindern, haben die Musiker einen Verein gegründet und einen Plan aufgestellt, wie man das Haus wieder fit machen und das auch bezahlen kann. Seit ein paar Tagen sagen der Kultur- und der Wirtschaftssenator, dass die Proberaum-Platte erhalten bleiben muss. Weil es sowas in ganz Deutschland kaum gibt.

Man weiß nicht, wie die Sache ausgeht. Die Musiker wollen kämpfen um ihren Traum. So ein bisschen berühmt sind sie ja inzwischen. Es wäre ihnen allerdings lieber, sie wären es wegen der Musik.

Marc Neller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false