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Auf Tuchfühlung. Mancherorts ist es üblich, die Wäsche zum Trocknen vors Fenster zu hängen.

© privat

Spurensuche: Kaviar bis zum Umfallen

Auf der Suche nach ihren Wurzeln wollte unsere Autorin durch Russland reisen. Fast wäre der Plan am Frühstück gescheitert.

Zum Frühstück gibt’s Kaviarmüsli, wie immer, wenn ich in Russland zu Besuch bin. Bemüht um ein möglichst hungriges und dankbares Gesicht, schaufele ich die glibberigen Kügelchen in mich hinein. Omas Blick begleitet jeden Löffel, der in meinem Mund verschwindet. Schließlich esse ich gerade nicht einfach roten Kaviar aus einer Müslischale. Ich löffle gerade ihre Liebe.

Als ich klein war, hat Oma in der sowjetischen Zeitschrift „Die Wahrheit des Komsomols“ gelesen, dass Kaviar die Bildung von roten Blutkörperchen fördert. Meine Kindheit hindurch frühstückte ich deshalb wie ein dekadenter Ölscheich. Was auch der Tatsache zu verdanken war, dass Kaviar hinter dem Polarkreis, wo Oma herkommt, billiger war als zum Beispiel Weintrauben.

Oma wohnt inzwischen in St. Petersburg. Ich wohne, seit ich zwölf bin, in Deutschland. Aber wenn ich zu Besuch bin, ist alles wie früher. Oma spart sich monatelang den Kaviar von ihrer Rente ab, um ihre Enkelin zu päppeln. Denn Oma möchte mich glücklich sehen. Auch ich möchte Oma glücklich sehen. Also verschweige ich, dass es mir lieber wäre, wenn ihre Liebe sich in Cornflakes manifestierte. Stattdessen versuche ich, die Fischeier unzerkaut und schnell an meinen Geschmacksrezeptoren vorbeizuschleusen.

„Kauen! Kauen! Du schluckst wie eine hungrige Ente!“, schimpft Oma, insgeheim höchst zufrieden, weil das ausgehungerte Kind sich allein bei seiner russischen Oma satt essen kann.

„Ich bin schon sooo voll!“, sage ich.

„Wag es ja nicht, vom Tisch aufzustehen! Auf dich warten noch Blini und Zucchinikaviar.“

Eine ungeübte Russin. Seit sie zwölf ist, lebt Wlada in Deutschland.
Eine ungeübte Russin. Seit sie zwölf ist, lebt Wlada in Deutschland.

©  Promo

Zucchinikaviar ist bedeutend besser als roter, es ist eine Art halb püriertes Ratatouille. Aber auch hier lauern Fallen. Omas Gerichte, die keine einheitliche Struktur und Farbe aufweisen, müssen stets wie ein Minenfeld untersucht werden. Oma ist nämlich ein Profi in Fleisch-Mimikry. Und natürlich! Auch diesmal tarnt sich ein fasriger Brocken unter einem dicken Möhrenstück.

„Oma, hör endlich auf, Fleischstücke in meinem Essen zu verstecken! Du weißt doch genau, dass ich kein Fleisch esse!“

„Humbug. Natürlich isst du Fleisch.“

„Ich weiß ja wohl besser, was ich esse und was nicht!“

„Nein, tust du nicht. Jeder isst Fleisch! Ohne Proteine geht der Mensch ein!“

„Als Angela und ich dich besuchen waren, hat sie auch kein Fleisch gegessen!“

„Ja, aber das ist etwas völlig anderes. Sie ist Deutsche. Sie hat andere Gene! Jetzt iss deinen Zucchinikaviar! Und versuch erst gar nicht, die Wurst aus dem Salat zu suchen!“

Ich hab es ja längst begriffen: Wer seine Klappe nicht hält, bekommt bloß noch mehr Essen reingeschoben. Ich habe mich damit abzufinden, dass das russische Frühstück in Omas Ausführung eine Fortsetzung des Abendessens ist. Brav stochere ich in der Schüssel mit Salat Olivje – einer Massenkarambolage aus Fleischwurst, Erbsen, Kartoffeln und Mayonnaise. Ich schlucke die Masse herunter, zusammen mit der Bemerkung, dass dieser „Salat“ in Deutschland als reichhaltiger Brotaufstrich gelten würde.

Danach gibt es Syrniki, Quarkkäulchen. Und Kompott. Und Schwarztee. Somit hat Oma schon um neun Uhr morgens einen kleinen Supermarkt in meinem Bauch untergebracht, ohne Produkttrennung nach Fleischtheke, Gemüseabteilung und Süßwarenregal. Langsam nährt sich in mir der Verdacht, dass Oma bei mir eine Magenverstimmung heraufbeschwören möchte, damit ich übermorgen auf keinen Fall losfliegen kann. In zwei Tagen breche ich zu meiner Russlandrundreise auf – was bei meiner russischen Verwandtschaft höchste Besorgnis hervorruft.

Seit meine Mama und ich nach Deutschland gezogen sind, habe ich zwar jedes Jahr meine alte Heimat besucht. Russland, das größte Land der Welt, blieb für mich dabei aber nur 60 Quadratmeter groß – so groß wie Omas Wohnung. Es war ein ziemlich gemütliches Russland, mit schweren Möbeln, die nach Zitronenpolitur rochen, tausenden Büchern und Sachen, die ich seit meiner Kindheit kannte. Hier veränderte sich kaum etwas. Mit den Jahren wurden zwar die Fernseher flacher und Omas Bauch dicker. Aber die Pendeluhr, die ich seit meiner Kindheit kenne, ging immer noch nach der Zeit meiner Kindheit.

Zwischen geistiger Umnachtung und Erkenntnisdurst

Ich hatte keinen besonderen Grund, dieses Russland zu verlassen. Hier gab es Liebe, Wärme und Pfannkuchen. Meine Heimat schien mir mit den Jahren immer geheimnisvoller – wie ein fernes Land, dessen Sprache ich zufällig spreche. Sogar die USA waren irgendwie näher: Dort habe ich ein Auslandsjahr verbracht, bin an den Küsten entlanggereist. In Russland kenne ich nur vier Städte: Nikel und Schtschokino, in denen ich als Kind wohnte; Sotschi, wo wir immer Ferien machten, und St. Petersburg, wo ich zur Welt kam und wo inzwischen mein Vater und meine Oma leben.

Dabei fasziniert mich dieses Land, in dem man Sachen mit dem großen Löffel isst, die in Deutschland allenfalls dünn aufs Brot gestrichen werden. Das Land, in dem die Menschen keine Fremden anlächeln, aber den letzten Rubel für dich ausgeben, sobald du es über die Türschwelle ihrer Seele geschafft hast. Meine fremde Heimat.

Ich habe beschlossen, Russland mit dem Rucksack zu bereisen: von Nikel hinter dem Polarkreis bis Sotschi im Süden; vom Schwarzen Meer bis zum sibirischen Baikalsee. Mein russischer Vater findet meinen Erkenntnisdurst generell löblich. Aber muss es denn gleich teilnehmende Beobachtung im Feld sein? Reicht es nicht, ein Buch über russische Geschichte zu lesen?

Eier des Tages. Kaviar ist gesund, heißt es in Russland. Deshalb frühstückt Wlada bei ihrer Oma immer wie ein dekadenter Ölscheich.
Eier des Tages. Kaviar ist gesund, heißt es in Russland. Deshalb frühstückt Wlada bei ihrer Oma immer wie ein dekadenter Ölscheich.

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„Und was willst du hier finden?“, fragte er. „Überall ist’s das Gleiche: Die Menschen gehen zur Arbeit, gehen Lebensmittel kaufen und ab und an ins Kino. Die Alten klagen über den Rücken, die Jungen über die Langeweile. Das ist in Sotschi nicht anders als in Murmansk und nicht anders als in Berlin. Unterschiede gibt’s höchstens bei der Außentemperatur und beim Durchschnittseinkommen!“

„Und was willst du hier finden?“, fragte auch meine russische Tante mütterlicherseits. Den Grad meiner Geistesumnachtung signalisierte sie mir, indem sie ihren Zeigefinger an der Schläfe hin und her drehte. „Glaub mir, die ganze Russland-Romantik macht nur von zu Hause aus Spaß“, sagte sie. „Deine Mutter kocht besser als jedes Restaurant, mit dem Satelliten kannst du dir die tollen alten Streifen im Abendprogramm angucken. Meinetwegen organisiere ich dir ein Wochenende im russischen Dorf, da kannst du deine Ladas und Ömchen in Gummigaloschen fotografieren. Das Bild hängst du dir dann in Berlin an die Wand und deine Freunde machen Oh! und Ah! Dann erzählst du noch die Mär von Großonkel Stephan, der ertrunken ist, als er mit dem Kopf in dem Bottich mit selbst gebranntem Schnaps einschlief. Da hast du deine russische Identität. Was anderes will doch niemand bei euch hören!“

Nur Oma fragte nicht, was ich in Russland finden will. Sie versuchte erst gar nicht, an meine Vernunft zu appellieren. Bei Oma geht nicht nur die Liebe durch den Magen, sondern auch die Argumentation. Womit sie nicht ganz unrecht hat: Nichts stillt den Reisehunger so effektiv wie ein fünffaches Frühstück. Von den 20 000 geplanten Kilometern, die ich in Russland zurücklegen will, werde ich heute keinen einzigen schaffen. Als ich mich endlich vom Tisch erheben darf, kann ich höchstens ein, zwei Schritte machen. Dann gewinnt die Schwerkraft die Oberhand. Heute habe ich nur noch ein Reiseziel: Omas Sofa.

Über ihre Erlebnisse in der fremden Heimat hat Wlada Kolosowa, 25, ein Buch geschrieben: „Russland to go. Eine ungeübte Russin auf Reisen“ (Goldmann-Verlag; 8,99 Euro). Wir verlosen drei Exemplare. Einfach bis Montag eine Mail schicken an: werbinich@tagesspiegel.de. Für alle, die nicht gewinnen: Am 30. August liest Wlada ab 20 Uhr in der Buchbox, Greifswalder Straße 33 in Prenzlauer Berg. Eintritt: fünf Euro.

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