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Panorama: Unterricht in der Eckkneipe

Eltern greifen zu ungewöhnlichen Mitteln, um gegen Stundenausfall zu protestieren - Das Problem dürfte noch größer werden

„Schule“ steht weiß auf einem roten Transparent neben dem Wappen einer Berliner Brauerei. Dort, wo am Freitag noch die „Bad Boys“ strippten und gestern Abend Western Union aufspielte – im Hinterzimmer der Kneipe „Kastanienwäldchen“ an der Residenzstraße – stehen elf Schulbänke und 22 Stühle. Davor ein Lehrertisch, eine Deutschland- und eine Weltkarte sowie eine Tafel. „Ich brauche noch einen Schwamm“, sagt Mathematikstudentin Martha Hubski. Heute will sie aber Erdkunde mit den Kindern pauken. Die kommen gerade zu Fuß mit ihren Eltern vom Hausotterplatz. Einige tragen Transparente mit Aufschriften wie „Pauken ist wichtig, aber wo sind unsere Lehrer?“. Während Dennis, Paul und die anderen ihre Hefte und Federtaschen auspacken, drängt Kneipenwirt Norbert Raeder die Fotografen und Fernsehteams aus dem Saal. Der Unterricht soll pünktlich und störungsfrei beginnen.

Draußen machen die Eltern vor laufenden Kameras ihrem Unmut Luft. Seit Anfang September hat die Klasse 5d der Reinickendorfer Hausotter-Grundschule keine Klassenlehrerin mehr. Auch die Vertreterin sei erkrankt, sagt Elternsprecher Andreas Nickel. Erdkunde, Mathematik und Sport würden nicht mehr unterrichtet, Mathematik gebe es nur sporadisch. Der Schulleiter habe mehrfach versichert, dass er sich bei der Bildungsverwaltung um Ersatz bemühe, geschehen sei nichts, beschwert sich Elternsprecherin Tanja Ebel. Bei einem Elterntreff hat Norbert Raeder spontan das Hinterzimmer seiner Kneipe angeboten. Er ist Landesvorsitzender der Grauen Panther, die Partei hat auch die Kosten für die Hilfslehrerin übernommen.

Gestern allerdings kündigte die Bildungsverwaltung an, dass innerhalb der nächsten Tage zwei Lehrkräfte an die Hausotter-Schule versetzt werden. Zwei Lehrerinnen seien in Mutterschutz gegangen, ein weiterer Pädagoge sei erkrankt, sagte der Sprecher der Bildungsverwaltung, Kenneth Frisse. Jetzt wolle man untersuchen, warum die Bereitstellung von Ersatzlehrkräften so lange gedauert hat.

So öffentlichkeitswirksam wie an der Hausotter-Schule geht es jedoch selten zu, wenn in Berliner Schulen Unterricht ausfällt. Die meisten Eltern haben sich damit abgefunden, dass Unterricht ausfällt. Erst wenn er über ein bestimmtes Maß hinausgeht, werden sie unruhig und rufen zu größeren Protesten auf. Das war vor fünf Jahren der Fall. Da fiel fast doppelt so viel Unterricht aus wie zurzeit, und die Eltern gingen auf die Straße.

Bald könnte es wieder so weit sein, denn die Personaldecke wird von Monat zu Monat dünner. Viele Schulen arbeiten ohne Vertretungsreserve. Wenn bei ihnen ein Kollege erkrankt oder auf Klassenfahrt ist, können sie sich nur behelfen, indem sie Teilungsstunden aufheben. Dies bedeutet, dass Klassen, die wegen eines hohen Anteils an Kindern mit Sprachschwierigkeiten oder Behinderungen aufgeteilt wurden, wieder zusammengelegt werden müssen.

Genau dies ist seit Jahren das Allheilmittel, wenn ein Lehrer ausfällt. Abfragen der Verwaltung ergaben schon vor Jahren, dass Deutsch-Förderstunden massiv als Steinbruch für die Vertretung kranker Kollegen herangezogen werden: Jede dritte Stunde wird auf diese Weise vertreten. Nur bei jeder vierten Stunde geben die Schulen an, dass sie sich aus der Vertretungsreserve bedient haben. Der CDU-Bildungsfachman Gerhard Schmid hält es für „extrem problematisch“, wenn Schulen immer wieder die Teilungsstunden opfern. Denn das gehe ausgerechnet auf Kosten der Schwächsten, die besondere Förderung brauchen. Aber eine andere Wahl haben die Schulen kaum: Seitdem im Jahr 2002 das Unterrichtssoll der Lehrer drastisch angehoben wurde, wagen es viele Schulleiter kaum noch, Mehrarbeit anzuordnen. Rein rechtlich könnten sie das zwar.

Aber eine Tagesspiegel-Umfrage in etlichen Schulen ergab, dass viele Schulleiter befürchten, dass Mehrarbeit zu zusätzlichen Krankheitsfällen führen würde, weil die vielen älteren Lehrer bei 26 oder 28 Stunden Unterricht längst an der Belastungsgrenze seien. Auch die Vertretungsreserve als Alternative zur Mehrarbeit ist nicht mehr viel versprechend: Infolge der vielen Pensionierungen ist die Reserve, die nach der Arbeitszeiterhöhung zunächst recht üppig war, sehr geschrumpft.Wenn man die rund 750 Dauerkranken abzieht, bleibt kaum was übrig.

Die Lage wird noch dadurch erschwert, dass durch den großen Reformdruck viele Fortbildungen und Studientage abgehalten werden müssen. So fielen in der vergangenen Woche zwei komplette Schultage am Charlottenburger Wald-Gymnasium aus, weil sich die Schule um die Entwicklung des Schulprogramms kümmern musste. „Eltern, Schüler und Lehrer haben sich darauf in der Schulkonferenz geeinigt“, erläutert Schulleiter Wolfgang Ismer. Der Aufwand habe sich gelohnt: „Wir sind sehr weit gekommen!“, freut sich Ismer – auch wenn die Schulverwaltung eigentlich nur einen Schultag pro Jahr für Studientage hergeben will.

Selbst wenn alle Fortbildungen und Studientage auf die unterrichtsfreie Zeit verlegt würden, wäre das Problem kaum kleiner, denn am Krankenstand, der der Hauptgrund für den Ausfall ist, lässt sich kaum etwas ändern. Was bleibt, ist oftmals nur der Protest der Eltern.

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