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Was es heißt jung zu sein: Zwischen Vorfreude und Melancholie

"Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft". Das hat Jean–Paul Satre einmal gesagt. Viele Jugendliche fiebern so auch dem letzten Schuljahr lange entgegen. Mit falschen Erwartungen, wie unsere Autorin feststellt

Vor drei Wochen hat das neue Schuljahr begonnen, für mich ist es das letzte. Auf diesen Moment hat man lange hingefiebert, doch nun fühlt er sich merkwürdig und beklemmend an. Plötzlich bin ich diejenige, die zum Abschlussjahrgang gehört, zu den Jungs und Mädchen, an denen man früher mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung vorbeigelaufen ist. Verschwunden sind nun die Mitschüler aus den höheren Klassenstufen, diejenigen, zu denen man einst aufgeschaut hat. Weg auch der Zauber, die Coolness, die sie verbreitet haben, wann immer man ihnen auf dem Schulflur begegnete.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich das erste Mal Janina erblickte. Ich war damals gerade in die fünfte Klasse gekommen, sie war acht Stufen über mir – und wurde mein heimliches Vorbild. Ihre zierliche Erscheinung, die blonden Haare, das gut gelaunte Lächeln, das einem suggerierte, Schule sei die reinste Erholung. Ihre Bücher und Hefter verstaute sie in einem Aktenordner, der wesentlich eleganter war als mein klobiger Schulranzen mit den roten Blümchen drauf. Auch ihr Outfit war das genaue Gegenteil von meinem: figurbetont, modisch und farblich perfekt abgestimmt. Um mich war es geschehen: So und nicht anders wollte ich auch sein. Grazil, lässig, perfekt.

Lesen Sie auf Seite zwei wie die Realität wirklich aussah.

Leider sah die Realität vollkommen anders aus. Ich war elf, klein, dunkelblond und in den unförmigen Jeans und dem buntem T-Shirt Welten entfernt von dem, was Janina darstellte. Ich malte mir aus, wie es wäre, auch bald mit der Schule fertig zu sein. Ich träumte von einer Karriere als Tierärztin und freute mich auf den bevorstehenden Chemieunterricht, denn ich glaubte, wer die Gesetze der Chemie durchschaut, der durchschaut auch alles Weitere im Leben, dem wird man nichts mehr vormachen können.

Denke ich heute an das elfjährige Mädchen von damals zurück, das mit großen Augen die Abschlussklasse der Schule bewunderte, muss ich lachen. Das soll ich gewesen sein? Kaum zu glauben. Zu naiv, zu verträumt, zu unerfahren, würde ich heute sagen, vielleicht mit einem verachtenden Unterton. Aber damals konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass vieles, worum ich Janina beneidete, wohl nur Fassade war. Ebenso wenig war mir bewusst, was genau hinter dem Wort Chemie steckt, um was es da konkret geht.

Hätte mir zum damaligen Zeitpunkt jemand gesagt, dass Chemie inklusive des Lehrers zu meinem persönlichen Hassfach werden würde, hätte ich das vermutlich nicht geglaubt. Manchmal entwickeln sich die Dinge eben anders, als man es vorhersagen würde.

Immer öfter wird man nun nach den eigenen Zukunftsplänen gefragt, von den Eltern, Großeltern, Freunden, Bekannten. Je öfter man mit dem Wort konfrontiert wird, desto fremder klingt es. Wenn ich früher nach meinem Traumberuf gefragt wurde, konnte ich stundenlang darüber reden, mich in Einzelheiten verlieren. Wie plump und kindisch ich damals doch war. Und auch der Ratschlag, das letzte Schuljahr in vollen Zügen zu genießen, klingt banal und überholt.

Heute ist mir nicht ganz klar, was es an den vielen Kursen, dem Lernstress und den engen Klausurplänen zu genießen gibt. Für Freunde und Partys bleibt kaum Zeit, vor allem dann nicht, wenn einem der Notendurchschnitt auf dem Zeugnis wichtig ist. Hinzu kommt der Druck, eigenen und fremden Anforderungen zu entsprechen. Die schlaflosen Nächte, das viele Auswendiglernen sollen sich am Ende lohnen.

Und so müssen sich Freunde und Privatvergnügen dem Stundenplan unterordnen. Der Freund kann nur noch zu nachtschlafender Zeit kommen und beim Erstellen der Powerpoint-Präsentation zugucken. Der Kontakt zur besten Freundin beschränkt sich auf kurze Telefonate, die gerade im ohnehin schon überfüllten Terminkalender notiert werden. Das Schlimme: Im Laufe der nächsten Monate wird es wohl nicht besser werden.

Lesen Sie weiter über die positiven Momente des Abiturientendaseins.

Aber das Abiturientendasein besteht nicht nur aus nervenaufreibenden Momenten, es hat auch positive Aspekte. Man kann sich den Stundenplan wesentlich flexibler gestalten als früher. Und auch das Verhältnis zu den Lehrern hat sich verändert: Es ist entspannter und offener geworden. Fast freundschaftlich. Die einst verschlossene Mathelehrerin, mit der man latent auf Kriegsfuß stand, entpuppt sich plötzlich als herzliche Person. Ein Umstand, der sich auch in den Leistungen niederschlägt: Selbst der unmathematischste Mitschüler wird auf einmal zum begeisterten Rechner.

Das letzte Schuljahr bringt viel Unerwartetes zu Tage. Natürlich wird die Selbstdisziplin bei den Hausaufgaben oder Klausurvorbereitungen auf die Probe gestellt – schließlich kontrolliert keiner mehr. Dafür lässt einen der eigene Ehrgeiz nicht vergessen, dass man für sich selbst lernt und für niemand anderes. Und so sitzt man morgens im Bus und führt sich die Mitschriften vom Vortag nochmal zu Gemüte, damit man im Unterricht etwas Sinnvolles zum Geschehen beizutragen hat. Was man davon hat? Eine hoffentlich gute Durchschnittsnote, die über den weiteren Werdegang entscheidet. Das Fatale daran: Wie dieser Werdegang aussehen kann, können einem die sogenannten Berufsberater, die seit Kurzem einen eigenen Raum in der Schule okkupieren, nicht vorhersagen.

Doch darüber will ich mir vorerst keine Gedanken machen. Denn das ist eines der Dinge, die sich mir in meiner Oberstufenzeit eingeprägt haben: sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, immer einen Schritt nach dem nächsten zu machen. Also erst das Abitur, und danach werde ich sehen, wie es weitergeht. Die grobe Richtung steht, doch wer weiß, was in den nächsten Monaten noch passiert und ob sich meine Meinung bezüglich meines Wunschstudienfaches Medizin nicht schon wieder geändert hat. Bis dahin mache ich es wie Janina: Wenn ich in den Gängen unseres Schulgebäudes jüngeren Mitschülern begegne, werde ich gut gelaunt lächeln.

Jacqueline Möller

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