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World Wide WEG: Fünf Zentimeter Freiheit

Fremde Männerbeine im Gesicht, unternehmungsfrohe Mitbewohner: Das Leben auf dem Uni-Campus hält stets neue Überraschungen bereit. Nicht immer zur Freude unserer Autorin

Von: Wlada Kolosowa

An: werbinich@tagesspiegel de

Betreff: Fünf Zentimeter Freiheit

Klopf, klopf. Nein tut mir leid, ich muss heute bei der allwöchentlichen „Grey’s Anatomy“-Runde passen. Klopf, klopf. In der „Tanzenden Krabbe“ kostet der Pitcher heute nur acht Dollar. Hört sich großartig an, geht gerade aber nicht. Klopf, klopf. Echt? Monica aus Norwegen macht just in diesem Moment mit Martin aus NRW rum. Mit DEM Martin, dem dicken? Im Waschraum? Das ist echt abgefahren, aber gerade… Klopf, klopf. Nein, ich bin weder sauer noch unsozial noch ein Spielverderber! Ich muss eine Kolumne schreiben. Über dieses Auslandssemester. Worum es in dieser Folge geht? Darum, dass man mich nicht lässt!

Die Inspiration für diese Folge will und will nicht kommen. Weil sie andauernd vertrieben wird. Sobald sich ein kluger Gedanke unter meiner Schädeldecke verirrt, hämmern meine Mitstudenten an meine Tür und locken mich mit gruppendynamischer Unterhaltung. Disziplin und Deadline halten mich davon ab, mich der Herde anzuschließen. Aber der kluge Gedanke ist trotzdem verpufft. Da sitze ich wieder, mit leerem Kopf und warte auf das Klopfen. Dieses Lauern ist schlimmer als das Klopfklopf selbst.

Wegen der Sehnsucht nach den Freunden in Deutschland vergisst man oft, dass zu viel Nähe ein großes Problem sein kann. Seit ich in Washington studiere, teile ich meine Uni mit 30 000 anderen Studenten, mein Haus mit 200, mein Bad mit 30 Mädchen und mein Zimmer mit zwei – einer Deutschen und einer Amerikanerin. Es gibt noch eine Zahl: Fünf. Fünf Zentimeter ist der Durchmesser meiner Kopfhörer, mit denen ich mich vor meiner Umwelt abschirmen kann. Fünf Zentimeter ist alles, was man an Privatsphäre bekommt, wenn man sich für das Leben „on Campus“ entscheidet.

Ich wohne mitten in einem Sozialexperiment. Wie schnell verlernen erwachsene Menschen die Eigenständigkeit? Wie schnell sinken Hemmschwellen? Schnell! Die Betten in unserem Zimmer sind in einem U angeordnet. In den ersten Tagen fand ich es noch schlimm, Morgengesichter zu sehen, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe. Heute macht es mir nichts mehr aus, mit vier Füßen im Gesicht aufzuwachen, von denen sich zwei an behaarten und unbekannten Männerbeinen befinden. Man lernt, wegzuhören – und auch was ein „Sexil“ ist: ein sexbedingtes Exil für die Mitbewohner der Abschlepper.

Man adaptiert sich, sucht sich Inseln, in denen man inmitten der Gesellschaft privat sein kann. Megan, die amerikanische Mitbewohnerin, hat eine Geheimsprache mit ihrem Freund erfunden und nuschelt drei bis vier Stunden täglich ins Telefon. Annika hat es gelernt, inmitten lautester Zimmerpartys zu schlafen. Und ich? Ich habe die Kopfhörer. Fünf Zentimeter, die eine ganze Welt in sich tragen. Eine Welt, in der ich bestimme, welche Musik läuft, welche Stimmen ich höre und welche Informationen in meinen Kopf eindringen. Schade nur, dass sie nicht dicht genug sind, um die Außenwelt ganz draußen zu halten. Klopf, klopf.

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