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Schlagfertig. Ivan Kiev war 16 und gerade von der Schule geflogen, als er mit dem Wrestling anfing. Sieben Jahre ist das nun her.

© Georg Moritz

Wrestling: Der Haumeister

Wrestling ist Trash, sagen viele. Für Ivan Kiev aus Hohenschönhausen gibt es nichts Größeres. Er träumt von einer Karriere in den USA.

Der grässlichste und der großartigste Augenblick ist der, wenn der Vorhang fällt. Das Herz rast, Adrenalin schießt in die Venen – und die sanftmütigen Kerle mutieren zu Kampfmaschinen in knallengen Latexhosen, die wie Gorillas ihre Fäuste auf die Brust trommeln und sich gegenseitig durch den Ring jagen. Dieser Augenblick, dieser Rausch kann süchtig machen. Das sagen sie alle, Crazy Sexy Mike, Ahmed Chaer und natürlich auch Ivan Kiev. Es ist eine Verwandlung. So als wäre der Vorhang eine Zauberkugel, wie damals bei der Mini Playback Show, als kleine Kinder sich als große Popstars verkleideten und die Lippen zum Playback bewegten. Und ein bisschen ist es ja auch beim Wrestling so. Es ist nicht alles echt. Nur die Show zählt.

Rund 300 Zuschauer sind an diesem Samstagabend ins Shake am Ostbahnhof gekommen, zur neunten Berlin Wrestling Night. Nach fünf Vorkämpfen wollen sie jetzt Ivan Kiev sehen, den amtierenden Champion der German Wrestling Federation (GWF). 23 Jahre alt, geboren in Berlin. Größe: 1,88 Meter. Kampfgewicht: 93 Kilo. Der vielleicht beste deutsche Wrestler will seinen Titel gegen Dragan Okic verteidigen, den „Bosnischen Hooligan“. Draußen brüllt, klatscht und stampft die Meute. Ivan tigert angespannt durch die Kabine. Im Publikum sollen Talentscouts sitzen. Der Champion ist aufgeregt.

Wie alle träumt er vom Sprung in die amerikanische Profiliga WWE. Die Catcher dort sind Idole. Sie werden von Millionen verehrt und kassieren hunderttausende Dollar. In Deutschland hingegen ist der große Wrestling-Hype der 90er abgeflaut. Shows wie „SmackDown“ laufen versteckt auf Eurosport oder Sport1. Hulk Hogan ist in Rente. Zwar pilgerten vor kurzem 8000 Fans in die O2-Arena, um die WWE-Stars zu bejubeln. Doch Wrestling hat an Reiz verloren. Mittlerweile strömt das Publikum eher zu Mixed Martial Arts, wo sich moderne Gladiatoren die Fressen blutig schlagen. Wrestling wirkt dagegen harmlos. Keine Schläge ins Gesicht, keine Ellbogen, keine Knock-outs. Für viele ist es nicht mehr als Laientheater, bei dem eingeölte Anabolika-Muskelberge in albernen Kostümen lieber große Reden schwingen, anstatt zu kämpfen. Ein abgekartetes Spiel, bei dem vor dem ersten Gongschlag feststeht, wer gewinnt und wer verliert. Ein Pseudosport. Alles Fake.

Wrestling hat ein Imageproblem. Wie nur kann man sich dafür begeistern?

Einige Tage vor dem Titelkampf in der Richardstraße in Neukölln, im Restaurant „L.A. New York“. Die Wrestler der GWF hängen hier regelmäßig ab. Auf der Terrasse trinken die zwei Brüder Ahmed Chaed und Crazy Sexy Mike Kaffee, sie leiten die Wrestlingschule. Drinnen beugt ihr eifrigster Schüler seinen massigen Oberkörper über eine Salamipizza. Kauend redet Ivan Kiev davon, dass er schon immer Catcher werden wollte. Früher zog er sich jeden Kampf im Fernsehen rein, sammelte Actionfiguren und tapezierte sein Kinderzimmer mit Postern von Shawn Michaels oder Bret Hart. Heute sind die einstigen Vorbilder zu Kollegen geworden. „Ich lebe meinen Traum“, sagt Ivan. Aber von seinem Traum allein kann er nicht leben. Ivan arbeitet im Schichtbetrieb, als Anlagenmechaniker für Rohrsystemtechnik. Wenn er mit blauen Flecken oder Blutergüssen zur Arbeit kommt, wundern sich die Kollegen. Was er in seiner Freizeit macht, das behält er für sich. Genauso wie seinen richtigen Namen. Ob es denn stimme, dass er aus der Ukraine stamme? Ivan, der in Hohenschönhausen aufgewachsen ist, schweigt und grinst.

Wrestling ist wie eine Seifenoper. Jeder Kämpfer verkörpert einen Charakter, jede Figur erzählt eine Geschichte. Es ist das alte Spiel Gut gegen Böse. Wäre der Ring ein Comic, Ivan könnte glatt als Superheld durchgehen. Er ist einer von den Guten, keiner der das Publikum bespuckt oder bepöbelt, keiner der den Gegner hinterrücks mit dem Klappstuhl erschlägt. Ein Babyface nennen die Wrestler das. Die, die am gefährlichsten aussehen, sind ja oft am liebsten. Das ist auch bei Ivan so. Unglaublich talentiert sei er, sagen seine Trainer Mike und Ahmed. Athletisch, lernbegierig und zielstrebig. Wenn es einer von ihren Schülern in die USA schaffen könne, dann nur er.

Die beiden Brüder sind Ivans Mentoren. Als er vor sieben Jahren zum ersten Mal beim Training aufschlägt, steht da ein schüchterner Junge, der kaum ein Wort rausbringt. 16 Jahre alt, gerade von der Schule geflogen. Das Erste, was die Trainer ihm zeigen, ist, wie man fällt, ohne sich den Arm zu brechen. Dann bringen sie ihm Ringen bei und dass man sich die Hand reicht, nachdem man sich geprügelt hat. So gesehen war Wrestling für Ivan auch eine Lebensschule, in der er Respekt gelernt hat und Disziplin. Zweimal in der Woche trainieren sie in einer spartanisch eingerichteten Sporthalle in einem Neuköllner Hinterhof. Vor und nach jedem Training reihen sich die knapp 30 Kämpfer in einer Linie auf. Am Anfang stand Ivan links außen. Jetzt ist sein Platz ganz rechts, da wo der Erfahrenste steht. Und der Beste.

In Dänemark, Frankreich, Polen und Belgien ist er schon aufgetreten. Doch das reicht ihm nicht. Ivan will jetzt richtig angreifen. 2013 entscheidet sich, ob er es packt oder nicht. Er will härter trainieren als je zuvor, 15 Kilo Muskelmasse zulegen, Schauspielunterricht nehmen und sich ein neues Kostüm schneidern lassen. In den USA müsste er ganz unten anfangen, aber immerhin bekäme er einen Vertrag und müsste sich nicht länger von einem Booking zum anderen hangeln, für ein paar hundert Euro pro Show.

In Deutschland sei der Ausgang der Kämpfe nicht abgesprochen, sagt Ivan. Nur wer gewinnt, werde wieder gebucht. Das kann man glauben oder nicht. So leicht gibt jedenfalls keiner der Wrestler auf. Das kann man an diesem Samstagabend im Shake am schmerzverzerrten Gesicht von Dragan Okic ablesen. Ivan hat ihn gerade mit einem Sprung von den Ringseilen niedergestreckt. Der Ringrichter zählt laut. In den vergangenen 30 Minuten haben sich die beiden auf die Bretter geknallt, sich an ihren Stiernacken gepackt und umhergeschleudert, sind zusammengeklatscht wie zwei aufeinanderkrachende Büffel. Ohne Rücksicht auf Verluste. Immer drauf. Wenn Ivan aus drei Metern mit einem Rückwärtssalto seinen Ellbogen auf Dragans Brust schmettert, dann ist das Millimeterarbeit. Es soll spektakulär aussehen, aber er will ihn nicht verletzten. Das ist die Kunst. Und deshalb wehren sich die Wrestler auch nicht, wenn sie geschmissen werden. Wrestling ist inszeniert und trotzdem ist es Sport, wenn auch ein ziemlich trashiger.

Der Preis, den die Wrestler dafür zahlen, ist ihre Gesundheit. Die Knie und der Rücken sind ihre Schwachstellen, viele sterben früh an Herzinfarkten, weil sie sich mit Steroiden und Schmerzmitteln vollpumpen. Ivan ist abgesehen von ein paar geprellten Wirbeln bisher nichts passiert. Blutige Spektakel wie seine Trainer früher, will er sich nicht liefern. Kein perverses Zeug mit Leuchtstoffröhren, Reißzwecken oder Stacheldraht. Geld ist nicht alles. Und auf gar keinen Fall will er als abgehalftertes, drogensüchtiges Wrack enden wie Mickey Rourke als Randy the Ram im Film „The Wrestler“. Aber er sagt auch: „Wenn ich irgendwann jeden Morgen mit Schmerzen aufstehe, weiß ich wenigstens, woher es kommt.“

Eins, zwei, drei. Die Hand des Ringrichters saust zum letzten Mal nieder. Sieg. Ivan Kiev verteidigt seinen Titel, die Scouts dürften das notiert haben. Die Schmerzen sind grässlich, aber das ist Nebensache. Der Champion lässt sich feiern. Im Augenblick nur Rausch und Endorphine. Alles ist großartig. Das beste Gefühl überhaupt.

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