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Panorama: Wut, Hoffnung und Ideologie

Was Bildungsexperten zu den Plänen von Rot-Rot zum Pilotversuch „ Gemeinschaftsschule“ sagen

Der Koalitionsvertrag steht: Damit ist der Weg frei für Schulen, die sich an dem von der PDS durchgesetzten Pilotversuch zur Gemeinschaftsschule beteiligen wollen. Der Tagesspiegel hat Experten um Statements zu dem Vorhaben gebeten. Tsp

Einheitsschulen sind verfassungswidrig

Für die Einrichtung eines Modellversuchs „Gemeinschaftsschule“ gibt es in Berlin keinen Handlungsbedarf. Da ein Modellversuch dem Zweck dient, einen Schultyp auf seine Eignung als Regelschule zu prüfen, die Einführung einer Einheitsschule aber verfassungswidrig ist (1972: Förderstufenurteil und 1977: Oberstufenurteil des BVerfGE), muss ein verfassungswidriger Schultyp auch nicht erprobt werden. Pädagogisch geboten ist dem gegenüber ein zweigliedriges Schulsystem, bestehend aus dem Gymnasium und einer Sekundarschule, in der Haupt- Real- und Gesamtschule vereint wären. Das Erfolgsmodell „Gymnasium“ darf nicht in Frage gestellt werden. Aus Sicht der Forschung darf man zudem gespannt sein, wie der Erfolg einer Einheitsschule gemessen und bewertet werden soll. Es ist zu befürchten, dass am Ende ein weiterer Schultyp in die Welt gesetzt wird, der, weil nicht verallgemeinerungsfähig, die Unübersichtlichkeit des Berliner Schulsystems noch einmal vergrößert.

Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität und Erziehungswissenschaftler

Rückfall in die Ideologie

Mit der Gemeinschafts- bzw. Einheitsschule an Pilotschulen vollziehen die derzeit Verantwortlichen den Rückfall in eine ideologisch bestimmte Bildungspolitik: antigymnasial, antibürgerlich, antileistungsorientiert. Das ist eine Kampfansage an die Hauptstadt und die Bedeutung attraktiver Schulen. Nun könnte man sagen: Was soll’s? Es werden sich nur wenig Schulen beteiligen, die Gymnasien darunter werden ihren Status verlieren. Doch der Skandal ist der Köder, die 22 Millionen, die in ein Projekt fließen, das eigentlich keiner will. 22 Millionen, für die in Berlin die dringend benötigten 400 jungen Lehrer eingestellt werden könnten.

Eva-Maria Kabisch, Abteilungsleiterin a.D. in der Senatsschulverwaltung

Schnurstracks in die Sackgasse

Die Entscheidung der rot-roten Koalition, 22 Millionen in Gemeinschaftsschulprojekte zu stecken, ist falsch. Berlin braucht Projekte, die möglichst in absehbarer Zeit flächendeckend wirken können. Handlungsbedarf gibt es besonders bei Hauptschulen. Hauptschulen müssen in Schulen mit einem breiteren Leistungsspektrum übergehen. Sei es, dass die Hauptschulen selbst mehr Bildungsgänge eröffnen, sei es, dass sich Haupt- und Realschulen zusammenschließen. In Berlin ist durchaus ein zweigliedriges Schulsystem anzustreben. Jetzt eine teure Spielwiese zu eröffnen, die nicht in die Fläche wirken wird und auch nicht zu finanzieren ist, ist eine Sackgasse.

Sybille Volkholz, ehemalige Bildungssenatorin der Grünen

Schnelllerner nicht vergessen

Ich halte es für sinnvoll, in Berlin die Gemeinschaftsschule zu erproben. Würde man stattdessen die Hauptschule mit der Realschule fusionieren, blieben die bisherigen Gesamtschulen und Sonderschulen außen vor. Indem wir die Gemeinschaftsschule erproben, können wir herausbekommen, was mit jenen Schülern geschieht, die sonst in die Haupt- oder Sonderschule abgeschoben werden. Wichtig ist aber, dass die Schüler in der Gemeinschaftsschule gezielt gefördert werden und dass es einen anderen Unterricht gibt. Das gilt nicht nur für die schwächeren Schüler, sondern auch für die Schnelllerner. Sollte die Gemeinschaftsschule die Schnelllerner vernachlässigen, würde es an Akzeptanz bei Lehrern und Eltern mangeln. Man sollte sie nicht nur in Brennpunkten, sondern auch in bürgerlichen Bezirken erproben.

Ulf Preuss-Lausitz, Professor für Erziehungswissenschaft an der TU

Begrüßtes Modellprojekt

Die GEW begrüßt ausdrücklich den Einstieg in die Gemeinschaftsschule. Soll das Modellprojekt erfolgreich werden, muss aber auch die personelle Ausstattung der Pilotschulen stimmen. Hier sind wir noch skeptisch. Die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler kann nur gelingen, wenn ausreichend Lehrkräfte, Erzieherinnen und sonstiges pädagogisches Personal an Bord sind.

Rose-Marie Seggelcke, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Rot-Rot auf Pfaden von gestern

Die rot-roten „Gemeinschaftsschulen“ lösen weder das Qualitätsproblem der Berliner Schule, noch entschärfen sie die Situation der Hauptschulen. Berlin benötigt einen Kurswechsel in der Bildungspolitik, doch Rot-Rot bewegt sich auf den Pfaden von gestern. Wir brauchen eine flächendeckende Qualitätsoffensive. Dazu zählt die gezielte und konsequente Fort- und Weiterbildung der Lehrer und Erzieher, die Stärkung der frühkindlichen Bildung und ausreichendes Personal. Berlin muss auf die Hauptschule verzichten und Selektions- und Auslesemechanismen, wie Sitzenbleiben, das Probehalbjahr u.ä. abschaffen. Einige wenige Gemeinschaftsschulen lösen das Problem der Hauptschule nicht.

Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher B 90/Die Grünen

Ungleichbehandlung de Luxe

SPD und PDS können es sich politisch nicht leisten, dass die Einheitsschule floppt. Deshalb sind sie bereit, ihrem Prestigeobjekt eine Ausstattung „deLuxe“ zu verpassen. An den künftigen Modellschulen herrschen dann geradezu paradiesische Bedingungen – zusätzliches pädagogisches Personal und sicherlich auch jede erdenkliche Unterstützung seitens der Schulverwaltung. Da können die Regelschulen nur neidvoll zusehen. Die Ungleichausstattung stellt diesen Modellversuch in Frage. Wozu vergleichen, wenn die Rahmenbedingungen so unterschiedlich sind? Fazit: Besser wäre, die Qualität des heutigen Bildungsangebots zu optimieren. Dazu gehört vor allem ein Ende des Unterrichtsausfalls.

Mieke Senftleben, bildungspolitische FDP-Sprecherin

Von Weimar lernen

Wenn das Wort Gemeinschaftsschule zum Kampfbegriff in der ideologischen und parteipolitischen Auseinandersetzung verkommt, dürfte das eigentliche Anliegen dahinter verschwinden. Tatsächlich sah bereits die Weimarer Reichsverfassung vor, „die Kinder des ganzen Volkes möglichst lange gemeinsam zu unterrichten“. Die Sieger der Pisa-Studie wissen, warum sie die Reformidee eines gemeinsamen Schulbesuchs aufgegriffen und differenziert beibehalten haben. Nirgendwo ist die Ungerechtigkeit in der Bildungsbeteiligung, ist die Abhängigkeit der Schulabschlüsse von der Herkunft so groß wie bei uns. Natürlich sind heterogen zusammengesetzte Klassen schwerer zu unterrichten. Daher sind Fragen der Differenzierung und des ergänzenden Personaleinsatzes ebenso zu beantworten wie nach der Ganztagsbetreuung.

Wilfried Seiring, langjähriger Leiter des Landesschulamtes

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