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Winnenden: 17-Jähriger läuft Amok und tötet 15 Menschen

UPDATE Ein Amokläufer hat an einer Realschule in Winnenden bei Stuttgart 15 Menschen getötet. Der Täter, ein 17-jähriger Ex-Schüler, floh ins 40 Kilometer entfernte Wendlingen - dort kam es erneut zu einer Schießerei. Nach Informationen von Tagesspiegel.de rettete eine Lehrerin mit großem Mut ihre Schüler.

Von Frank Jansen

Entsetzen und Fassungslosigkeit in der baden-württembergischen Kleinstadt Winnenden: Ein 17 Jahre alter Amokläufer hat am Mittwochmorgen 15 Menschen getötet und richtete sich entgegen bisheriger Berichte anschließend selbst. Nach Angaben der Polizei betrat der Täter und ehemalige Schüler Tim K. um 9:30 Uhr die Albertville-Realschule und schoss während des Unterrichts um sich. "Wir saßen im Unterricht und hörten ein lautes Donnern, wir dachten erst, die Schule stürzt ein. Unser Lehrer rannte in den Flur, aber er kam sofort zurückgelaufen und schlug die Tür hinter sich zu, dann schrie er: Alle unter die Bänke!" Das berichtete ein Schüler dem Nachrichtensender N-TV. Eine andere Schülerin erzählte dem Sender unter Tränen, sie habe im Klassenzimmer gesessen, als unmittelbar nach den Schüssen jemand vom Schulhof her gerufen habe: "Amoklauf! Ruft einen Notarzt, die Kinder sterben!"

Sicherheitsexperten berichteten Tagesspiegel.de, eine Lehrerin habe mit großem Mut Schüler vor dem Amokläufer gerettet. Die Frau sei "eine Heldin". Tim K. sei "mit eiseskaltem Gesicht" in einer Klasse erschienen und habe drei oder vier Kinder erschossen, sagte ein Experte. Dann sei der Täter hinausgegangen - offenbar, um seine Pistole nachzuladen. "Die Lehrerin hat geistesgegenwärtig die Klassentür verschlossen", sagte ein Sicherheitsexperte. Tim K. habe dann versucht, das Türschloss aufzuschießen, "das ist ihm nicht gelungen". So habe die Lehrerin das Leben der anderen Schüler gerettet.

Täter erschoss sich offenbar doch selbst

Nachdem der schwer bewaffnete Ex-Schüler in der Schule mindestens neun Schüler und drei Lehrer erschossen hatte, tötete er auf seiner zweieinhalbstündigen Flucht drei Passanten. Zunächst erschoss einen Beschäftigten des nahe der Schule gelegenen Krankenhauses für psychisch Kranke. Nach der Tat zwang er einen Mann, gemeinsam mit dessen Auto zu flüchten. Auf der Fahrt in Richtung Wendlingen ließ er den Fahrer frei. Die Flucht fand ihr Ende bei einem Autohaus in Wendlingen. Tim K. drang in das Autohaus ein, um ein Fahrzeug in seine Gewalt zu bringen und erschoss dort einen Angestellten und einen Kunden. Als er das Gebäude verließ, eröffnete er das Feuer auf Polizisten und verletzte zwei Beamte schwer. Er selbst wurde am Bein verletzt und schoss sich nach letzten Erkenntnissen der Polizei selbst in den Kopf. Berichte, dass ein Schüler oder eine Schülerin zudem am frühen Mittwochnachmittag im Krankenhaus den Schutzverletzungen erlag, dementierte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Es handelte sich um ein Missverständnis, erklärte eine Sprecherin.

Möglicherweise wollte der Amokläufer noch viel mehr Menschen töten. "Die Menge der nicht abgefeuerten Munition deutet darauf hin, dass er weitaus mehr vorhatte", sagte der leitende Kriminaldirektor Ralf Michelfelder.

Tim K. stammt aus Leutenbach im Rems-Murr-Kreis in der Nähe von Winnenden. Rund 1000 Einsatzkräfte versuchten, den Mann zu finden sowie Schüler und Passanten in Sicherheit zu bringen. Die Realschule, die von 580 Schülern besucht wird, wurde evakuiert, das Gebiet weiträumig abgesperrt. "Die ganze Stadt gleicht einer Festung", berichtete ein Augenzeuge. "Es herrscht blankes Entsetzen." Auch auf dem angrenzenden Gelände einer psychiatrischen Klinik fielen Schüsse. "Ich habe sechs bis sieben Schüsse gehört. Ich darf meine Station nicht mehr verlassen", sagte eine Sprecherin der Klinik.

Keine Hinweise auf rechtsextremes Motiv

Der Todesschütze bediente sich nach Informationen von Tagesspiegel.de aus dem Waffenarsenal seines Vaters. Das bestätigte auch der Stuttgarter Polizeipräsident Konrad Jelden. Der Vater besaß demnach als Mitglied eines Schützenvereins legal 15 Waffen. Davon habe er 14 im Tresor gelagert und eine im Schlafzimmer. Der Täter habe zudem 50 Schuss Munition mitgenommen. Tim K. habe mit einer Schusswaffe der italienischen Marke Beretta auf die Opfer gefeuert, sagte ein Sicherheitsexerte. Der Hintergrund der Tat sei bislang nicht zu erkennen.  Er hatte nach Polizeiangaben die Realschule mit einem Abschluss verlassen. Es gebe keine Hinweise auf ein rechtsextremes Motiv, auch der als Waffennarr geltende Vater sei nicht als Rechtsextremist aufgefallen. "Wir können aber derzeit nichts ausschließen", hieß es in Sicherheitskreisen.

Klarheit werde es erst geben, wenn die Wohnräume der Familie durchsucht sind. Im Rems-Murr-Kreis, in dem Winnenden liegt, gibt es seit Jahren Probleme mit der rechtsextremen Szene. Aus dem Regierungspräsidium Stuttgart verlautete, alle greifbaren Schulpsychologen würden zusammengezogen und nach Winnenden geschickt, um die verängstigten Schüler zu betreuen.

Wenige Stunden nach dem Amoklauf von Winnenden meldete sich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Böhmer, bei den Behörden in Baden-Württemberg. Böhmer habe besorgt gefragt, ob der Täter gezielt auf Kinder aus Migrantenfamilien geschossen hat, hieß es in Stuttgart. "Aber das ist nicht zu erkennen", sagte ein Sicherheitsexperte, "der hat wahllos getötet". Auch ausländische Botschaften, darunter die Vertretungen Kroatiens und der Türkei, hätten sich erkundigt, ob Familien aus ihren Ländern betroffen sind. Bislang sei jedoch nichts gefunden worden, "was auf Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus hindeutet", hieß es in Sicherheitskreisen, "doch wir gehen auch dem mit großer Sorgfalt nach".

Amokläufer war offenbar beliebt und sportlich

Der Amokläufer Tim K. war als Kind offenbar beliebt und sportlich begabt. "Hier ist er als netter und guter Tischtennisspieler in Erinnerung", sagte die Vorsitzende des TSV Leutenbach, Eva Sebele, Tagesspiegel.de. Tim K. wird auf der Homepage des Vereins erwähnt, in der "Bezirksrangliste" des Jahres 2001 der Abteilung Tischtennis stand er in der Kategorie Schüler B 2 auf Platz 1. Später habe Tim K. den Verein gewechselt, sagte Sebele. Es sei "völlig unverständlich, dass der morgens aus dem Haus geht und Leute erschießt". Der Ort stehe unter Schock, "bei uns ruht alles, das ist fürchterlich".

Einer, der Tim K. gut gekannt hat, ist Eckehard Weiß, Jugendleiter beim TTV Erdmannhausen. Zu dem Tischtennisverein war Tim gewechselt, nachdem er sich beim TSV Leutenbach verabschiedet hatte. "Der war ein guter Spieler", sagte Weiß Tagesspiegel.de. So gut, "dass er ein bisschen abgehoben war. Im Training hat er gesagt, mit Schwächeren spielt er nicht". Aber ansonsten "war das ein ganz normaler Jugendlicher", mit einer unauffälligen Frisur "und den üblichen Klamotten". Sein großes Vorbild sei der Trainer gewesen, ein Kroate. Als der TTV Erdmannhausen aus finanziellen Gründen den Trainer entlassen musste, "ist Tim auch gegangen". Tischtennis sei seine große Leidenschaft gewesen.

Weiß kennt auch die Eltern. "Der Vater ist selbstständig, der hat eine größere Firma", sagte er, "die zerlegen und reparieren Maschinen, wenn es Reklamationen gibt". Es handele sich um ein Unternehmen im nahen Affalterbach, "die Mutter ist da in der Buchhaltung". Der Waffentick des Vaters ist Eckehard Weiß bekannt. "Ich war mal bei dem im Keller, da steht ein riesengroßer Tresor". Vater K. habe gesagt, da seien Waffen drin, "er ist ja im Schützenverein". Aber der Vater habe den Tresor nicht geöffnet, "er hat uns nie etwas gezeigt. Er hat nur gesagt, dass er Sportpistole schießt." Für den Jugendleiter sind die K.s "eine ganz normale Familie". Tim K. hatte noch eine zwei Jahre jüngere Schwester, "dann gab es da noch eine Katze und zwei Schildkröten".

"Bitte, ich kann jetzt nicht mehr"

Der Ort, in dem Tim K. mit seiner Familie gelebt hat, steht unter Schock. "Wir sind wie gelähmt", sagte eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters von Leutenbach. Die Frau möchte nicht mit ihrem Namen in der Presse genannt werden. Die Gemeinde mit 10.600 Einwohnern ist nur drei Kilometer von Winnenden entfernt. "Einige Schüler aus Leutenbach sind unter den Opfern", sagte die Frau, "die gingen auf die Schule, wo es passiert ist, bei uns gibt es ja nur eine Grund- und eine Hauptschule". Nur mühsam und unter Tränen konnte sie weiterreden. "Ich habe es über das Fernsehen mitbekommen, das kann nicht sein, dass sowas bei uns passiert." Es habe hier "seit Jahrzehnten" keine schwere Gewalttat gegeben, "kein Mord, nichts".

Sie kenne die Familie K. nicht, sagte die Frau. Sie konnte oder wollte nur mitteilen, dass die K.s im Ortsteil Weiler zum Stein leben, "das ist ein ganz altes Dorf", mit etwa 3500 Einwohnern, 1975 mit einer weiteren Gemeinde zum Ort Leutenbach zusammengeschlossen. Als die ersten Meldungen vom Amoklauf kamen, sei Bürgermeister Jürgen Kiesl sofort nach Winnenden gefahren. Die Stimme stockte wieder, "Leutenbach macht auf jeden Fall eine Trauerfeier, mit Winnenden zusammen". Dann möchte die Frau aus dem Rathaus das Gespräch beenden, "bitte, ich kann jetzt nicht mehr".

Experte: Vorhersagen sind fast unmöglich

Bei der Suche nach dem Motiv können auch Experten zunächst nur Vermutungen anstellen. "Im Allgemeinen", sagte Hans Merkens Tagesspiegel.de, "sind Amokläufer Verlierer oder Einzelgänger, die nur wenig sozial integriert sind." Viele seien sehr verzweifelt, hielten sich für unerfolgreich und suchten nach einem Ausweg. Beweggründe oder Motive für eine solche Verzweiflungstat finde man allerdings immer erst im Nachhinein. "Es ist fast unmöglich, bestimmte Vorhersagen zu treffen", sagt Merkens. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt sich der emeritierte Professor der Freien Universität Berlin mit Jugendforschung.

Immer wieder aufkommende Vermutungen, dass gewalttätige Computerspiele oder Filme Auslöser für einen Amoklauf sein könnten, teilt er nicht. Immerhin besäßen solche Filme und Spiele auch viele Jugendliche, die nie gewalttätig auffielen. Allerdings könne es sein, dass der gestrige Amoklauf in Alabama, bei dem zehn Menschen getötet wurden, ein Auslöser oder zumindest eine Motivation für den Schützen in Winnenden gewesen sei.

Merkel und Köhler bestürzt

Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) haben mit tiefer Bestürzung auf die Bluttat von Winnenden reagiert. "Mit Entsetzen und Trauer haben meine Frau und ich von dem Amoklauf in Winnenden erfahren. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien und Freunden. Wir fühlen uns mit ihnen in diesen schweren Stunden tief verbunden", betonte Köhler am Mittwoch in Berlin. Für Donnerstag wurde angesichts eines der blutigsten Amokläufe in der Geschichte der Bundesrepublik Trauerbeflaggung angeordnet.

Zu einem spontan anberaumten Trauer-Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Karl Borromäus versammelten sich am Abend Hunderte Menschen, darunter viele Schüler der Albertville-Realschule. "Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Ohnmacht, blankes Entsetzen und Hilflosigkeit lähmen uns alle seit heute Vormittag", sagte der katholische Weihbischof Thomas Maria Renz. Viele der Anwesenden hatten Blumen mitgebracht und brachen immer wieder in Tränen aus.

Die Bluttat ruft Erinnerungen an den Amoklauf von Erfurt wach: Am 26. April 2002 hatte ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums innerhalb weniger Minuten 16 Menschen und dann sich selbst erschossen. Die Stadt Erfurt und das Land boten Baden-Württemberg Hilfe bei der Betreuung von Schülern oder der Angehörigen von Opfern an. Es könnten kurzfristig speziell geschulte Notfallpsychologen entsandt werden, erklärte Kultusminister Bernward Müller (CDU). (imo/nal/tja/dpa/ddp/AFP)  

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