zum Hauptinhalt

Wohn-Duell: Ist das Erste das Letzte?

Wohnen im ersten Geschoss: Top oder Flop? Unsere Autoren streiten sich. Unten wohnt nur noch, wer nicht anders kann, körperlich oder finanziell, meint Frida Thurm. Harald Martenstein hingegen liebt seine "Beletage".

Es ist Samstagmorgen, und die Küche duftet nach Kaffee, wie es sich für eine Küche an einem Samstagmorgen gehört. Ich weiß, dass die Sonne scheint, aber wenn ich mit meinem Becher am Küchentisch sitze und aus dem Fenster schaue, sehe ich nur das Grau der Hinterhofwände. Ich wohne in der ersten Etage. Das Wetter lasse ich mir auf dem Telefon anzeigen, denn bis zum Nachmittag werde ich die Sonne auch im Zimmer zur Straße hin nicht zu sehen bekommen.

11 Uhr, es klingelt Sturm, der Paketbote ist da. Wer im ersten Stock wohnt, lebt zwar weit weg vom Himmel, aber ziemlich nah zur Hauspforte. Der Bote hat ein Päckchen unterm Arm. Ob er das hier abgeben könne, für den Nachbarn? Klar. Ob er noch zwei größere bringen könnte? Na gut. Ob er ausnahmsweise ein Paket für jemanden aus dem Nebenhaus dalassen kann? Nun ja. Unser Nachbar aus dem vierten Stock hat sich mal XXL-Sitzsäcke liefern lassen, als er im Urlaub war. Zwei Wochen wanden wir uns im Flur an den riesigen Kisten vorbei. Schlimmer kann es eigentlich nicht kommen.

Oder doch? Die Frau in der Bäckerei gegenüber registriert jede meiner Gardinenbewegungen, wenn sie gelangweilt hinterm Tresen steht. Sobald es warm wird, stellen die Männer vom Wettbüro im Erdgeschoss ihre Stühle auf die Straße. Bei offenem Fenster klingt es so, als säßen sie neben meinem Bett. Das Fenster öffne ich ohnehin nur selten, denn die drei verschiedenen Müll- und Wertstoffwagen, die über die Woche verteilt morgens bei uns halten, haben ihren Auspuff auf dem Dach – auf Höhe meines Fensterbretts. Immerhin verscheuchen sie so die Tauben. Das spärliche Licht, das in der Frühe zu mir durchdränge, sehe ich nicht, weil mein Vorhang aus dickem Stoff besteht. Die Straßenlaterne vor meinem Fenster leuchtet mir sonst genau ins Gesicht. Und im Winter werden dicke Puschen zu meinen wichtigsten Begleitern. Die Eingangshalle unter der Wohnung macht den Fußboden eiskalt.

Beletage erster Stock? Pah. Das ist vielleicht unfair den Architekten des 19. Jahrhunderts gegenüber, von Onlinebestellungen und Wertstofftonnen konnten sie ja noch nichts ahnen. Aber der kurze Weg, der zu meiner Wohnung führt, macht die Nachteile überhaupt nicht wett, vielmehr hat sich der Vorteil von damals ins Gegenteil verkehrt. Wer es sich heute leisten kann, wohnt oben, im ausgebauten Dachgeschoss mit Terrasse, verschont von Krach und Gestank, mit Panoramablick über die Stadt. Unten wohnt nur noch, wer nicht anders kann, körperlich oder finanziell.

Ein Grölen dringt durch die Dielen, es muss 18 Uhr sein. Unten im Wettbüro drängen sich Männer, die ich nicht sehe, nur höre. Heute spielen die Istanbuler Klubs, Fenerbahçe gegen Galatasaray. Bei jeder Torchance bebt der Boden, und Chancen wird es noch viele geben, bevor das Spiel unentschieden ausgeht und bei den Männern eine sehr lange und sehr laute Diskussion auslöst.

Neulich hatten mich meine Nachbarn aus der fünften Etage zu einer Party eingeladen. Ihre Wohnungstür und die Deckenhöhen waren nicht annähernd so eindrucksvoll wie bei mir im ersten Stock. Aber als ich bei ihnen aus dem Fenster schaute, und ja, tatsächlich, Himmel sah, habe ich sie beneidet. Bis wir uns über ihre Miete unterhielten. Frida Thurm

Martenstein liebt seine Beletage

Beim Immobilienkauf gibt es drei wichtige Qualitätskriterien. Sie heißen: Lage, Lage, Lage. Du kannst an einem Haus alles verändern. Bloß die Lage nicht. Das Gleiche gilt für Wohnungen. Was das Stockwerk betrifft, hat sich die Meinung durchgesetzt: je höher, desto besser. In manchen Häusern steigen die Mieten folglich mit der Geschosszahl. Wer ganz oben wohnt, ist König. Toller Blick. Sonne. Niemand, der in der Wohnung darüber herumtrampelt und Krach macht. Womöglich sogar eine Dachterrasse.

Ganz unten ist es aber auch sehr schön. Dies sagt jemand, der beides ausprobiert hat. Früher galt die erste Etage sowieso als beste Adresse. In Berlin und anderen Großstädten gibt es dafür das wunderbare Wort „Beletage“, während der Gründerzeit aus dem Französischen ins Deutsche eingewandert, in den 1870er bis 1890er Jahren. Die Beletage war das am prächtigsten ausgestattete Stockwerk, mit besonders viel Stuck, oft auch mit besonders hohen Räumen. Sie ist so beliebt gewesen, weil sie nahe bei der Straße lag, bei den Geschäften und den Arbeitsplätzen, weil sie kein lästiges Treppensteigen erforderte und weil Besucher mit dem hochherrschaftlichen Entree der Gründerzeithäuser beeindruckt werden konnten.

Das sind immer noch Argumente. Bewohner der ersten Etage haben keine Probleme mit sperrigen Einkäufen. Das geht fix. Müll runterbringen? Eine Kleinigkeit beim Einkauf vergessen? Keine große Sache. Und kommen Sie, verehrter Dachgeschossmensch, mir bitte nicht damit, dass es bei Ihnen einen Aufzug gibt – bis Sie mit dem endlich oben sind, habe ich schon Kaffee getrunken und die erste Seite der Zeitung gelesen.

Überhaupt, beim morgendlichen Zeitungsholen entfaltet sich der Reiz der Beletage besonders intensiv. Da huscht man schnell raus, ungekämmt und in Schlafgewändern, und schon liegt die Zeitung auf dem Tisch. Die Beletage ist außerdem schön kühl. Ich brauche an 35-Grad-Tagen keinen Ventilator. Es soll ja angeblich immer heißer werden, schon davon gehört? Kein Problem. Wunderbarerweise ist meine Beletage an Wintertagen aber keineswegs ein Eiskeller.

Die ausgebauten Dachgeschosse meines Lebens hatten dagegen im Sommer alle etwas von einer Sauna. Die Bauqualität war immer mangelhaft. Die Wohnungen sahen toll aus, aber hatten schwere Macken. Bei einer wurde die Heizung nicht warm, und aus dem Duschkopf tröpfelte nur ein Rinnsal. Bei einer anderen lief das Wasser von der Dachterrasse nicht ab. Den halben Sommer stand sie folglich unter Wasser. Und laut war es auf dem Dach. Der Lärm wandert auf geheimnisvolle Weise nach oben, die Straße funktioniert ähnlich wie ein Megafon.

Von meiner Beletage aus kann ich nach hinten in den Garten schauen, der nur 20 Schritte vom Schreibtisch entfernt ist, und vorne auf die Straße, wo interessante Dinge passieren. Das ist meine Bühne, auf der es pausenlos ein Programm gibt. Wegen der breiten Berliner Bürgersteige stellt der Autolärm kein Problem dar. Manchmal klingelt der Paketbote, denn ich bin der nächstgelegene Hafen für alle Sendungen, deren Empfänger nicht daheim sind. Das ist nicht lästig, im Gegenteil, man bleibt so mit den Nachbarn in Kontakt. Natürlich ist der erste Stock altersgerecht und rollstuhlgeeignet, was mir im Moment völlig egal ist, aber trotzdem beruhigend sein kann. Harald Martenstein

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false