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Zeugen des Massakers: Die Summe des Schreckens

"Mama, ich sterbe vor Angst." "Ich weiß, mein Liebes. Hörst du noch Schüsse?" "Nein." Teile aus einem SMS-Verkehr, als Anders Behring Breivik um sich schoss. Neben dem großen Entsetzen wird nun das Entsetzen der Einzelnen sichtbar.

Anders Behring Breivik kann das nicht gewusst haben. Aber mit den ersten Schüssen, die er am Freitagnachmittag auf Utöya abgefeuert hat, tötete er die Person, von der alle sagen, sie sei die Seele des Sommerlagers gewesen.

Monica Olsen, 45, war Funktionärin der Arbeiterpartei und seit fast 20 Jahren als Verantwortliche mit Utöya. Sie soll sogar mit auf der Fähre gewesen sein, die den Attentäter auf die Insel brachte, einen Mann in Uniform, der angegeben hatte, dort ein paar Sicherheitsregeln verkünden zu wollen – wegen der Bombe in Oslo. Doch irgendwie kam er ihr wohl doch verdächtig vor, jedenfalls wandte sie sich an die Sicherheitskräfte auf der Insel – und wurde von Anders Behring Breivik erschossen.

Monica Olsen ist eine der Toten von Utöya. Und zu den Überlebenden zählt ihre Tochter. Helen Bösei Olsen, 16.

Die trat am Dienstagabend bei einer improvisierten Gedenkfeier am Ufer des Tyrifjords ans Mikrofon und sprach Worte, die das ganze Land rühren.

„Wir haben viel Gewalt erlebt auf Utöya, unserem sichersten Ort der Welt. Alle, die dort waren, haben jemanden verloren. Das habe ich auch. Ich habe meine Mutter verloren, zu der ich immer aufgeschaut habe. Mama war Utöya, und Utöya war Mama. Ich vermisse sie so schrecklich“, sagte Helen Bösei Olsen.

Monica Olsen hatte in ihrer Tochter früh das Interesse für Politik geweckt und sie für die Sozialdemokratie begeistert. Schon als Kind kam Helen mit auf die Insel, die Jahrzehnte lang das unbeschwerte Sommerparadies der Jusos gewesen war. Auch Jens Stoltenberg, heute Ministerpräsident, früher Funktionär in der Jugendpartei, kannte Monica Olsen, auch er hatte von ihr als der fürsorglichen Seele der Insel gesprochen.

Die Tochter der Toten rief die Norweger dazu auf, nicht Hass zu empfinden für den Täter, sondern sich der Liebe zu besinnen, die man für seine Freunde habe. Liebe statt Hass. Mehr Offenheit statt Hochrüstung des Sicherheitsapparats. Die norwegische Losung. „Grausamkeit mit Nähe beantworten“, so hatte es Kronprinz Haakon beim Blumenzug durch Oslo am Montagabend gesagt.

Doch das ist leicht gesagt. Was passierte, lässt sich nicht zusammenkehren und spurlos beseitigen wie die Trümmer im Regierungsviertel.

Und es gibt neben der Trauer noch ein zweites Gefühl, das stetig wächst. Das heißt Wut. Auch Helen Olsen zeigte Wut. Nicht dem Täter, sondern der Polizei gegenüber, deren Fehlleistungen nach dem Massaker immer klarer hervortreten, die der Aufklärung noch harren.

Die Behörde entschloss sich unterdessen zu einem ungewöhnlichen Schritt. Sie veröffentlicht nun im Einverständnis mit den Angehörigen auf ihrer Homepage die Namen und Geburtsdaten der identifizierten Todesopfer, und eine Boulevardzeitung druckte die ab, mit kleinen Fotos. Das Massaker bekommt Gesichter. Dieses Persönliche, das einzelne Schicksal im großen Schrecken, ist es auch, was dem Bestreben der Norweger, ihre Normalität wieder herzustellen, immer wieder in die Parade fährt.

Zu diesem Bestreben gehört, dass die Geschäfte in Oslo rund um das abgesperrte Regierungsviertel wieder geöffnet sind. Die fehlenden Schaufensterscheiben haben die Ladenbesitzer durch Spanplatten ersetzt, an denen hängen Schilder: Wir haben geöffnet. Trotzdem, trotz allem. Im Inneren brennt künstliches Licht. Im Inneren ist es wie im norwegischen Winter. Draußen aber ist nichts mehr, wie es vorher war.

Das liegt auch an der Geschichte, die Geir Johnsen, der Vater eines Opfers, erzählt. Er berichtet davon, wie die Polizei ihn abwimmelte, als er schon wusste, dass auf Utöya etwas Schlimmes passierte, weil seine Kinder ihm SMS schickten. „Unsere Tochter war auf Utöya zusammen mit ihrem Bruder, sie rief mich über das Handy an und erzählte von der Schießerei auf der Insel, und dass Panik ausgebrochen war“, sagt er.

Protokoll eines Notrufs. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Der Vater rief sofort die Notrufnummer 112 an. Unendliche vier Minuten musste er warten, so erzählt er es, bis jemand abhob. Und die Beamtin glaubte ihm dann nicht. „Ich sagte, was meine Tochter mir erzählt hatte, und wissen Sie, was die Polizei antwortete? Sie sagte, ,Wenn es um so etwas geht, müssen Ihre Kinder selbst bei uns anrufen‘.“

Er rief dann von seinem Handy den Sohn auf der Insel an und hielt in seiner Verzweiflung die Telefone aneinander, damit die Polizistin den Originalbericht von der Insel hören könnte – vergebens. Die Beamtin blieb dabei: Das Kind muss selbst anrufen.

Und dann gibt es da noch den SMS-Verkehr zwischen Julie Bremnes und ihrer Mutter, den die Zeitung „Verdens Gang“ am Mittwoch veröffentlichte. Julie, 16, ist auf der Insel, als Breivik das Feuer eröffnet. Um 17. 42 Uhr geht bei ihrer Mutter die erste SMS ein, 45 Textnachrichten fliegen zwischen Mutter und Tochter in den folgenden 75 Minuten hin und her.

– Mama, sag der Polizei, dass hier Menschen sterben. Sie sollen sich beeilen.

– Ich kümmere mich, Julie. Die Polizei ist unterwegs. Kannst du mich anrufen?

– Nein. Sag der Polizei, dass hier ein Verrückter ist, herumläuft und auf die Leute schießt. Sie sollen sich beeilen.

– Gib uns bitte unbedingt alle fünf Minuten ein Lebenszeichen.

– Wir haben Angst zu sterben

– Ich weiß, mein Liebling. Bleibt in eurem Versteck, geht nirgendwo hin. Die Polizei ist schon unterwegs, vielleicht ist sie sogar schon da! Siehst du Verletzte oder Tote?

– Wir verstecken uns hinter Felsen am Ufer. Ich bin nicht in Panik, aber ich sterbe vor Angst.

– Ich weiß, mein Liebes. Wir sind wahnsinnig stolz auf dich. Hörst du noch Schüsse?

– Nein.

Kurz nach 18.15 Uhr dann gute Nachrichten von der Insel: Die Polizei ist hier.

– Der Mann, der schießt, trägt offenbar eine Polizei-Uniform. Seid also vorsichtig. Was passiert jetzt?

Die Mutter sieht im Fernsehen, wie die Insel evakuiert wird, die Tochter hört Hubschrauber. Und kurz nach 19 Uhr schickt die Mutter die letzte Nachricht: „Jetzt haben sie ihn.“

Seit dem vergangenen Freitag beginnen Gespräche in Oslo immer gleich. Mit Fragen. Wie geht es dir? Ist alles okay? In deiner Familie ist niemand betroffen, ja? Viele kennen jemanden, der irgendwie betroffen ist. In den Zeitungen schreiben Menschen Leserbriefe. „Ich kannte den Attentäter“, steht darin. „Wir gingen zusammen zur Schule.“ Er war doch nur einer von vielen – Norwegern. Dass der Mörder aus ihrer Mitte kommt, das ist für die Menschen in Norwegen kaum zu verstehen.

Schwer liegen diese Gedanken über der Hauptstadt, deren Himmel sich am Mittwoch, dem fünften Tag nach dem Anschlag, fast wolkenlos zeigt. Ruhig und leer ist die Stadt – das aber ohnehin, weil die großen Ferien in Norwegen noch zwei Wochen andauern, die meisten Bewohner in ihren Ferienhäusern sind, im Urlaub. Noch immer sind die Straßen um das Energieministerium, vor dem Breivik seine Autobombe explodieren ließ, in einem Radius von mehreren hundert Metern abgesperrt. Bauzäune, die als Absperrungen dienen, sind über und über mit Rosen und anderen Blumen behängt, auf dem Asphalt liegen noch immer Splitter und Glasscherben, hinter den Zäunen ist der lange Hals eines Baukrans zu sehen. Nur wenige Polizisten sind es noch, die hier Wache stehen.

Im Café auf dem Youngstorget, dem zentralen Platz am Rande des Regierungsviertels, umrundet von fünf- bis sechsstöckigen Gebäuden und traditionell Sitz der norwegischen Arbeiterbewegung, recken die Menschen ihre Gesichter der Sonne entgegen. Nein, sagt einer, der in Oslo lebt, vorsichtiger sei man jetzt nicht.

Mitarbeit Carsten Spannagel, Oslo

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