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Panorama: Zugunglück in England: Mindestens vier Todesopfer

Mindestens vier Todesopfer forderte ein schweres Zugunglück am Dienstag nördlich von London. Bei einer Geschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde entgleiste der Schnellzug von London nach Leeds nahe der Ortschaft Hatfield.

Mindestens vier Todesopfer forderte ein schweres Zugunglück am Dienstag nördlich von London. Bei einer Geschwindigkeit von 160 Kilometern pro Stunde entgleiste der Schnellzug von London nach Leeds nahe der Ortschaft Hatfield. Die Rettungsmannschaften bargen 19 Schwerverletzte aus den zertrümmerten Waggons, in denen sich etwa 100 Fahrgäste befanden. Die Unfallursache ist noch ungeklärt.

Ein Sprecher der Eisenbahngesellschaft GNER erklärte, dass der "Zug auf dem richtigen Gleis war und auch die Signalanlagen funktionierten". Er deutete an, dass die Experten auch Sabotage als Unglücksursache untersuchten. Justin Rowlatt, ein zufällig mitreisender Fernsehreporter, beschrieb, wie der Zug plötzlich das Gleis verlies und auf der Seite liegend und Funken stiebend auf dem Schotter schlitterte: "Ich hörte einen gewaltigen Schlag und der Zug stürzte um. Menschen schrien verzweifelt. Das Dach des Speisewagens wurde völlig weggerissen. Es war die Hölle." Ein neues Unglück der britischen Eisenbahn; das Wievielte eigentlich, fragte ein Fernsehjournalist. Das könne man so schnell nicht sagen, war die Antwort eines Bahnsprechers. Es war der zweite Unfall an diesem Tage. Am Dienstagmorgen rammte ein Nahverkehrszug auf einem unbeschrankten Bahnübergang in Südengland einen Minibus. Es gab mehrere Verletzte.

Die Katastrophe von Hatfield ereignete sich knapp ein Jahr nach dem Unglück nahe dem Londoner Bahnhof Paddington, wo 31 Menschen starben und 250 verletzt wurden. Seinerzeit hatte der Lokführer eines Schnellzuges ein schlecht sichtbares rotes Haltesignal übersehen, über das sich schon vorher viele seiner Kollegen beschwert hatten, und war in einen Nahverkehrszug geprallt. "Jetzt muss etwas geschehen", hieß es damals. Doch kaum etwas hat sich geändert. Nach dem Untersuchungsbericht verkündetet Transportminister John Prescott, dass in den nächsten Jahren 180 Millionen Mark in die Sicherheit des Eisenbahnverkehrs investiert würden.

Die nicht abreißende Serie von Unfällen zeigt die Grenzen des britischen Privatisierungstaumels, der häufig als Vorbild für andere Länder gepriesen wird. Die frühere Premierministerin Margaret Thatcher hatte kurz vor ihrem Sturz die Privatisierung des gesamten Bahnwesens durchgesetzt - in naivem Vertrauen darauf, dass der Markt schon alles richten werde. Seitdem vermietet die Privatgesellschaft Railtrack Schienen, Tunnel, Brücken und Bahnhöfe, 25 Unternehmen lassen Züge fahren. Das Ergebnis: ein Wirrwarr von Zuständigkeiten. Selbst die Thatcher-freundliche Wirtschaftszeitschrift "Economist" wertet die Privatisierung der Bahn inzwischen als "katastrophalen Misserfolg".

Die Unfallstatistik im Mutterland der Eisenbahn war vor der Privatisierung nicht viel besser, aber eine Zugreise ist mit den privaten Betreibern weder pünktlicher, komfortabler, billiger oder gar sicherer geworden. Immer wieder kommt es wegen veralteter Sicherheitsstandards zu schweren Unglücken. Ein automatisches Bremssystem, wie es etwa in Deutschland, Frankreich und den meisten anderen EU-Ländern üblich ist, fehlt. Die Nation, die einst die Dampfmaschine erfand und als Kolonialmacht ein Viertel der Erde mit Gleisen durchzog, leistet sich ein Signal- und Sicherheitssystem aus den 20er Jahren.

Aus British Rail wurden Virgin, Great Western und wie die Bahnunternehmen noch alle heißen, aber die Fahrgäste sehen darin bislang wenig Vorteile. Das staatliche Monopol wurde in private Monopole aufgebrochen, die keine Konkurrenz haben. Ein privates Monopol aber ist die beste Möglichkeit zur Maximierung des Profits, wie der Untersuchungsbericht nach der Katastrophe von Paddington bewies. Das Zauberwort shareholder value beinhaltet eine kalte Kosten-Nutzen-Kalkulation: Die Rettung eines einzigen Menschenlebens durch Zwangsbremsanlagen hätte die Gesellschaften rund 42 Millionen Mark gekostet. Deshalb wurden die bei vielen europäischen Bahnen längst üblichen Sicherheitssysteme gar nicht erst angeschafft. Great Western schweißte einige Waggons des Unglückszuges aus dem Schrott eines früheren Unfalls zusammen - eine Praxis, die man sonst nur bei betrügerischen Gebrauchtwagenhändlern vermutet.

Doch die Bahngesellschaften sind sich keiner Schuld bewusst. Schon drei Wochen nach dem Unglück von Paddington forderte der Direktor von Railtrack ein "Ende der Hysterie über Bahnsicherheit". Probleme und Sicherheitsmängel werden grundsätzlich heruntergespielt, Statistiken geschönt. Am "Tag der 100-prozentigen Pünktlichkeit" rauschten viele Züge durch kleinere Bahnhöfe hindurch, ohne anzuhalten, um planmäßig ihr Ziel zu erreichen. Auf grausame und schmerzliche Weise musste die neue britische Labour-Regierung eine Lehre ziehen: Schlüsselunternehmen, von denen das Wohl und Weh der Nation abhängt, können nicht völlig dem freien Spiel des Marktes überantwortet werden. Bis die versprochenen Reformen jedoch greifen, sind Zugreisen in Großbritannien ein teures, unbequemes und allzu häufig auch ein gefährliches Glücksspiel.Auch im Zielbahnhof des Unglückszuges vom Dienstag erfuhren Wartende zunächst nichts über die Entgleisung. Auf der Anzeigetafel stand noch nach zwei Stunden nur die lakonische Mitteilung: "Gestrichen."

Eva Karcher

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