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Bei einem der schwersten Zugunglücke in Deutschland seit Jahren sind nahe Oschersleben in Sachsen-Anhalt mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen.

© dpa

Zugunglück in Sachsen-Anhalt: Tod im Regionalexpress

Nach dem schweren Zugunglück in Hordorf wird nach der Ursache gesucht. Die Identifizierung der zehn Todesopfer ist schwierig. Auf derselben Strecke gab es vor knapp 44 Jahren das schwerste Zugunglück der DDR.

Marion Schilling steht zitternd in der Tür ihres Hauses. Seit 1977 wohnt sie direkt am Bahnhof von Hordorf. Das kleine Gebäude grenzt direkt an den Bahnsteig. Knapp 100 Meter von ihrem Haus entfernt sind die beiden Züge zusammengestoßen. „Wenn ich mir vorstelle, dass es neben unserem Haus passiert wäre, es hätte auch uns erwischen können“, sagt die 53-Jährige.

Wäre das Unglück im Bahnhof passiert, das Haus der Schillings würde wohl nicht mehr stehen. Wie eine Spielzeugeisenbahn ist der leichte Triebwagen des Harz-Elbe-Express (HEX) von den Gleisen gekickt worden. Er liegt im vorderen Bereich fast völlig zerstört gut zehn Meter neben den Gleisen auf einem schneebedeckten Acker. Der Güterzug kam erst gut 500 Meter nach dem Zusammenprall zum Stehen. Er hat eine Länge von mehr als 200 Metern und ist mit Kalk beladen. Die schwere Diesellok blieb fast unbeschädigt. Ihr Lokführer trug nur leichte Verletzungen davon.

Das Thermometer zeigte minus zehn Grad, und es war neblig, als die Rettungskräfte in der Nacht zu Sonntag am Unglücksort eintrafen. Zwei Insassen hatten mit Handys die Rettungskräfte alarmiert. Mehr als 200 Feuerwehrleute, Sanitäter und THW-Einsatzkräfte aus der ganzen Region waren innerhalb kürzester Zeit am Einsatzort. Das Feld neben dem Gleis wurde mit grellem Scheinwerferlicht ausgeleuchtet. Bis zwei Uhr hatten die Einsatzkräfte acht Leichen geborgen, sie wurden mit Folien bedeckt neben dem Zugwrack abgelegt. Am Sonntagnachmittag wurde die Zahl der Toten mit zehn angegeben, zu diesem Zeitpunkt schwebte ein im Halberstädter Ameos-Klinikum behandeltes zehnjähriges Mädchen nach Auskunft der Ärzte in akuter Lebensgefahr. „Die Situation ist kritisch“, sagte der ärztliche Direktor des Klinikums, Prof. Dr. Klaus Begall.

Insgesamt 23 Verletzte wurden in umliegende Krankenhäuser in Halberstadt und Magdeburg gebracht. Die Verletzungen der Opfer sind selbst für erfahrene Ärzte nur schwer zu verkraften. „Alle Verunglückten haben mehrere Schädigungen an Kopf, Brustkorb, Bauch und Extremitäten davon getragen“, erklärte Begall. Patienten wie auch einige Ärzte müssten psychologisch betreut werden.

„Sie sehen uns alle sprachlos und geschockt“, sagte Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD). Er lobte alle Helfer wie etwa die Feuerwehr und medizinische Notfalleinheiten. Rettungshubschrauber konnten wegen des Nebels nicht eingesetzt werden. Spürhunde suchten in den Wracks nach Opfern.

Wie viele Menschen in dem Personenzug waren, ist noch unklar. Der HEX-Doppeltriebwagen bietet insgesamt 120 Menschen Platz. Bisher wird von etwa 50 Insassen ausgegangen. „Wir können nicht ausschließen, dass Passagiere nach dem Unglück geschockt das Weite gesucht haben“, sagte ein Polizeisprecher. Die Identifizierung der Toten wird von den Behörden als „schwierig“ bezeichnet, da einige Insassen keine Ausweispapiere dabeihatten. Unter den Opfern sind nach Auskunft der Polizei auch mehrere Ausländer.

Ebenso unklar war zunächst die Unglücksursache. Der Regionalexpress hatte beim Zusammenstoß eine Geschwindigkeit von etwa 100 Stundenkilometern, während der Güterzug nach Angaben der Bundespolizei 80 Stundenkilometer fuhr. Beide Züge waren nach Auskunft eines HEX-Sprechers pünktlich. Der Unfall ereignete sich kurz hinter einer Weiche nahe dem Haltepunkt Hordorf, an der die zweigleisige Strecke eingleisig wird. Solche Überleitstellen gibt es mehrfach zwischen Magdeburg und Halberstadt. Der Güterzug hätte nicht aus dem zweigleisigen Abschnitt fahren dürfen, solange der Triebwagen auf dem eingleisigen Abschnitt ist.

Derzeit wird untersucht, ob der Güterzug, der für die Salzgitter AG aus Peine mit Kalk an Bord unterwegs war, ein Haltesignal überfahren hat. „Die Untersuchungen laufen“, sagte Ralph Krüger, Einsatzleiter der Bundespolizei. Der leicht verletzte Lokführer des Güterzugs konnte befragt werden. Er stand unter Schock und machte zunächst keine ausführlichen Angaben. Nach Polizeiangaben könnte er zum Unglückszeitpunkt nicht im Führerstand gewesen sein.

An der Unfallstelle ist die Signalanlage nicht an das elektronische Stellwerk in Leipzig angeschlossen. Das bestätigte Änne Kliem, Sprecherin der Deutschen Bahn für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. „Weiche und Lichtsignal werden von Hand von einem sogenannten Fahrdienstleiter geregelt, der an der Strecke in einem Häuschen sitzt“, sagte Kliem. Dies sei nichts Ungewöhnliches. Die Bahn gab auch bekannt, dass der betreffende Gleisabschnitt noch nicht mit einem Sicherungssystem ausgestattet war, das Züge automatisch bremsen kann. Dies sei dort auch nicht vorgeschrieben, sondern nur für Trassen, auf denen mit mehr als 100 Stundenkilometer gefahren werden darf. Das System gebe es bereits auf etwa der Hälfte der Strecke Magdeburg-Halberstadt.

Auf der Strecke zwischen Magdeburg und Halberstadt ereignete sich zuletzt am 6. Juli 1967 ein schweres Zugunglück – das schwerste in der DDR überhaupt. An einem Bahnübergang in Langenweddingen bei Magdeburg war ein Tanklastzug mit 15 000 Litern Benzin auf einem Bahnübergang mit einem Personenzug zusammengestoßen und explodiert. 94 Menschen kamen damals ums Leben.

Mathias Kasuptke

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