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Panorama: Zum Spucken zu schön

"Ich bin weit davon entfernt, Leuten, die mir keine Tüten von ihren Reisen mitbringen, die Freundschaft zu kündigen", sagt Annika Langner. Die Berlinerin bezeichnet sich nicht als fanatische Sammlerin, aber sie gehört zu einer verschworenen Gemeinde, die etwas sammelt, woran andere nur mit Grausen denken.

"Ich bin weit davon entfernt, Leuten, die mir keine Tüten von ihren Reisen mitbringen, die Freundschaft zu kündigen", sagt Annika Langner. Die Berlinerin bezeichnet sich nicht als fanatische Sammlerin, aber sie gehört zu einer verschworenen Gemeinde, die etwas sammelt, woran andere nur mit Grausen denken. In Spanien nennt man ihn "Bolsa de mareo", in Österreich "Speisackerl" und international sind die Bezeichnungen "Waste-", "Disposal-" oder "Airsickness Bag" am geläufigsten.

Er klemmt gemeinhin im Netz an der Rückseite des Vordersitzes und ist hier zu Lande als Spuck- oder Kotztüte bekannt. Piloten reden indes gerne vom "Happy Sack", wohlwissend, dass sich der zweckorientierte Benutzer im Moment des Zugriffs dem Glück recht fern wähnt, obschon ihm Luft-, See- oder Reisekrankheit untrügliche Indizien für ein intaktes Gleichgewichtsorgan liefern. Folglich sind Säuglinge wie Taubstumme gegen die Symptome gefeit, und auch jenseits des 50. Lebensjahrs nimmt aufgrund der Degeneration der Sinnesorgane das Leiden am als Kinetose bezeichneten Bewegungsschwindel ab.

Stetig wachsend ist hingegen das Bedürfnis, sich der Beutel zu bedienen. Rund 2,5 Millionen der 5-Cent-Artikel werden bei der Lufthansa jährlich verbraucht, 3,5 Millionen sind es bei Air France. Und manche Fluggesellschaften forcieren den Konsum sogar noch durch die Aufmunterung zur multifunktionalen Nutzung: Etwa, indem sie Ergebnisraster für Kartenspiele auf das seit den fünfziger Jahren mit Polyäthylen beschichtete Papierbehältnis drucken. Andere gehen selbst mit gutem Beispiel voran, setzen die robusten wie lebensmittelechten Tüten beim Bordservice für den Eiswürfel-Transport ein. Und wiederum andere lassen ihnen derart originelle, kunstvolle Designs angedeihen, dass Ästheten ob des eigentlichen Verwendungszwecks von einem wahren Gewissenskonflikt gebeutelt werden.

"Eine wirklich schöne Tüte", sagt Robert Elsaesser von der Schweizer Firma Elag Verpackungen AG, mit rund 70 Millionen verkauften Exemplaren pro Jahr Marktführer im Geschäft mit der mobilen Übelkeit, "ist die von Uzbekistan Airways", eine der kleinsten Fluggesellschaften der Welt. Goldfarbene Schnörkel ziehen sich wirr über dunkelblauen Grund, mittendrin die Information "Airsickness Bag", einige Zentimeter darüber das Logo der Fluggesellschaft und noch weiter oben der Rat, den Beutel nach Benutzung zu falten.

Vergleichsweise karg fällt dagegen aus, was der Lufthansa aktuell auf die Tüte kommt - tristes Grau und ihr Kranich. Da gab man sich früher doch entschieden wortreicher: "Nach Gebrauch nicht aus dem Flugzeug werfen, sondern schließen und auf den Boden stellen", instruierte ein Vorgängermodell. Doch auch andere hiesige Ferien- und Linienflieger lassen per se mehr Sinn für Purismus denn für Kreativität erkennen. Einzig bei der österreichischen Lauda Air hat das Individuelle Tradition. Zwar ist das Autogramm des Chefs auf dem Speisackerl passé, aber die jetzige Inschrift "Luftkrankheits-Tasche" steht dem in puncto Einzigartigkeit kaum nach. Entsprechend begehrt ist sie unter Tütologen, wie Gerd Otto-Rieke, Autor von "Izmirübel - Das Buch zur Tüte" (Alabasta Verlag 2000), die stark prosperierende Schar eifriger Kotzbeutel-Sammler nennt.

Held der überwiegend von Männern dominierten Szene ist Niek Vermeulen, ein Holländer, der 1979 durch eine Wette zu seinem bizarren Hobby kam und seit 1986 mit der weltweit größten Spucktüten-Kollektion im Guinness Book of Records geführt wird. Weit über 3000 "Prullenzakjes" - so heißen die Objekte seiner Begierde im Niederländischen - umfasst dessen Archiv: Schlichte und aufwändige Typen mit Falt-, Draht-, Clip- oder Kordelverschluss ebenso wie ein aus Nylon gefertigtes Luxus-Modell. Das kreiste tagelang an Bord eines Space Shuttles im Kosmos und ist selbstverständlich Vermeulens wertvollstes Stück.

Am schönsten, verrät er, fände er aber das der Tell Air, einer schweizerischen Fluggesellschaft, die 1970 gegründet und schon nach wenigen Monaten wieder liquidiert wurde. Tell-Air-Tüten sind auf Tauschbörsen besonders gefragt. Tütologisch betrachtet könnte Vermeulen also rundum glücklich sein - ist er aber nicht. Denn: Die Suche nach einem Käufer, der dem Mittsechziger die komplette Sammlung abnimmt, um deren Existenz dauerhaft zu sichern, gestaltet sich als heikel. Kein Wunder, berücksichtigt man einerseits ihren ideellen Wert und andererseits die Tatsache, dass Kotzbeutel ungeachtet aller Sparmaßnahmen bei den Airlines nach wie vor gratis zu haben sind. Für Economy Class-Passagiere ebenso wie für die in der First Class, wo die Tüte kein bisschen luxuriöser ausfällt. Günter Herwig vom Luftfahrtclub Otto Lilienthal e.V. jedenfalls ist sicher, dass Vermeulen unter seinen Landsleuten am ehesten einen Nachfolger finden wird. "Das Sammeln der Dinger ist nämlich innerhalb Europas eine Spezialität der Holländer", weiß Herwig, der bereits etliche Tauschbörsen für Fans von Luftfahrt-Accessoires organisiert hat.

Zwar war auch der am Sonnabend im Flughafen Schönefeld veranstaltete Spuckbeutel-Tausch nur ein Randthema zwischen dem Handel mit Flugzeug-Modellen, -Fotos und -Büchern, "doch der anfänglichen Scham ob ihrer Passion haben sich die Tütologen längst entledigt", sagt Annika Langner. "Rund zweihundert Sammler", schätzt Niek Vermeulen, der bislang lediglich einmal auf See unter Kinetose litt, "sind es europaweit."

Als fanatische Sammler würde er aber nur ein Zehntel derer bezeichnen. Die Berlinerin Annika Langner gehört da trotz ihrer eigenen Website noch gar nicht zu Letzteren - obwohl ihr Fundus mittlerweile fast 150 Exemplare birgt. Darunter auch Relikte von Luftfahrt-Dinosauriern wie Pan Am oder Interflug, auf die sie doch "etwas stolz" ist. Und auch eine längst ge-relaunchte Germania-Tüte bedeutet ihr mehr als viele andere, da mit der vor zehn Jahren auf einem Flug nach Marokko alles begann. "Aber ich sehe das mit dem Sammeln wirklich ganz entspannt", sagt die 26-Jährige, Auch am Beutel-Tausch sei sie ebenso wenig interessiert wie am Verkauf des Komplettbestands. "Obwohl", zögert die Beamtin, "wenn mir jemand richtig viel Geld dafür bieten würde, würde ich schon ins Grübeln kommen." Aber eigentlich hat sie fest vor, die Sammlung ihren Kindern zu vererben, "und überzählige Tüten schenke ich Bekannten, denen Autofahrten auf den Magen schlagen."

Maren Sauer

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