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Horst Herold, damaliger Präsident des Bundeskriminalamtes, auf einem Foto vom November 1980.

© Sven Simon/imago stock&people

Zum Tod von Horst Herold: Der letzte Gefangene der RAF

Der ehemalige BKA-Chef Horst Herold ist verstorben. Dieses Portrait, das zuerst zu seinem 95. Geburtstag im Oktober erschien, veröffentlichen wir daher erneut.

In den als bleiern bezeichneten Zeiten des vergangenen Jahrhunderts ist er beschrieben worden als stur und sensibel, dynamisch und depressiv, wehleidig und wütend. Vor allem wurde dem legendären Chef des Bundeskriminalamtes die Arroganz vorgeworfen, mit der er wieder und wieder seine Macht ausspielte. Solange der derartig Porträtierte im Dienst war, musste Herold die Erlaubnis seines jeweiligen Vorgesetzten einholen, des amtierenden Innenministers, falls er sich gegen Unterstellungen, die aus seiner Sicht Rufmord waren, vor Gericht wehren wollte. Der ehemalige Staatsanwalt Horst Herold bekam sie als BKA-Präsident seinem Rechtsempfinden nach zu selten.

Als sich der Sozialdemokrat verbittert gerade mal 57-jährig in den Ruhestand zurückzog, begleitet von den Krokodilstränen derer, die lauthals seinen Abschied gefordert hatten, bereitete er diese Vergangenheit juristisch auf. Bis auf einen einzigen gewann Herold alle Prozesse, setzte Gegendarstellungen durch und Unterlassungserklärungen und Widerrufe und schien ausreichend beschäftigt damit, sein Bild in der Öffentlichkeit zurechtzurücken.

Doch solche nachträglichen Siege waren der Öffentlichkeit keine großen Veröffentlichungen mehr wert, sie hatten nur noch für ihn einen Wert. Den Widerruf, den zum Beispiel „Der Spiegel“ unter dem nichtssagenden Titel „Transparenter Staat“ drucken musste, weil er seine Attacken gegen den „Sonnenstaat des Doktor Herold“ mit falschen Zitaten aus „Transatlantik“ belegt hatte, hielt der Pensionär in einer Kopie griffbereit.

Immer wieder war spürbar, manchmal nur in einem halben Satz, wie sehr er noch darunter litt, nicht seiner Leistung gerecht behandelt worden zu sein. Andererseits schien ihm das sich dabei aufdrängende Bild eines treuen Hundes, der vom Hof gejagt wird, zu gefallen. Denn solange es noch ein paar offene Rechnungen gab, hatte er was zu tun.

Der Intellektuelle Horst Herold war ein witziger Formulierer und gebildet dazu. Er berief sich gern auf Hegel, zitierte aber noch lieber aus den „Hand-Orakeln“ des spanischen Jesuiten und Philosophen Balthasar Gracian (1601–1658). Bei dem fand er für sich geeignete Vergleiche mit seinen Lebenssituationen, wie zum Beispiel die passende Weisheit aus dem Orakel Nr. 99: „Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen. Recht zu haben reicht nicht aus.“ Hätte sinngemäß auch vierhundert Jahre nach Gracian in seiner deutlicheren Sprache Genosse Herbert Wehner sagen können, der Jesuit der SPD, von dem der BKA-Präsident zum Abschied einen kleinen Teller aus Meißener Porzellan, bemalt mit einer gelben Rose, geschenkt bekam. Den hielt er in Ehren.

Wie ein Schachspieler versuchte er die Züge der RAF vorauszuahnen

Herolds rundliche Bonhomie verbreitete Wärme. Sein fränkischer Dialekt täuschte. Geboren wurde er vor 95 Jahren in Thüringen. Mag sein, dass er im Austeilen besser war als im Einstecken. Aber er konnte lachen. Sogar über sich selbst.

Über die Wurzeln und über die Protagonisten, woher die kamen und was die wollten und wie viele Leben sie außer dem eigenen zerstörten, gibt es Hunderte von Untersuchungen. Die Rote Armee Fraktion (RAF) war nicht etwa mythisch, wie sie inzwischen in manchen Retrospektiven verklärt wird, Andreas Baader war kein Robin Hood.

Die RAF war mörderisch. Keinen fürchteten die Täter so wie Herold, denn dieser kriminalistische Triebtäter war ihnen ebenbürtig, schien sich in den Köpfen der Terroristen geradezu eingenistet zu haben. Der Vergleich mit Doktor Mabuse, der in der Bezeichnung „Sonnenstaat des Doktor Herold“ anklang, war nicht zufällig gewählt, aber er war dennoch töricht. Eher wie ein Schachspieler versuchte Herold, die Züge der Staatsfeinde Nummer eins vorauszuahnen, um auch auf überraschende Attacken sofort reagieren zu können.

In vielen Fällen hatte er mit dieser Taktik Erfolg. In einem ganz entscheidenden Fall nicht. In diesem Fall erlebte Horst Herold sein Waterloo. Das war im deutschen Herbst 1977.

Seit dem 6. September wurde ein zerfurchtes Gesicht auf Seite eins fast aller Tageszeitungen gedruckt. Jede Nachrichtensendung im Fernsehen zeigte das Foto des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Jeder Bericht aus Bonn begann mit den Neuigkeiten aus der verkürzt Krisenstab genannten „Kleinen Lage“ im Bundeskanzleramt. Was tatsächlich in diesem Kreis besprochen und beschlossen worden war und was in den Pressekonferenzen verschwiegen wurde, war nicht nachzuprüfen.

Das Ultimatum der RAF allerdings war bekannt, ein als echt bestätigtes Bekennerschreiben in den Medien verbreitet. Die Terroristen verlangten, im Austausch für den Gefangenen Schleyer, elf ihrer einsitzenden Gesinnungsgenossen freizulassen. Die Reaktion der Bundesregierung wurde gleichfalls veröffentlicht: Der Staat lasse sich nicht erpressen, und die im erweiterten Großen Krisenstab informierten Politiker der Opposition stimmten dem Primat der Staatsräson ausdrücklich zu. Auch Helmut Kohl, der mit dem entführten Schleyer befreundet war.

Schleyers letzte Eintragung im Terminkalender: "Herold anrufen"

Was im Herbst des Jahres 1977 passierte, zwischen dem Tag des Kidnappings, dem 5. September, und dem Tag, an dem Schleyer im Kofferraum eines grünen Audi 100 tot aufgefunden wurde, dem 19. Oktober, ist minutiös recherchiert und in allen Details geschildert worden: die Entführung Schleyers und die Ermordung seines Fahrers sowie die seiner Leibwächter. Die Erstürmung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch die Spezialisten der GSG9 in Mogadischu und die Befreiung der Passagiere. Die Selbstmorde der RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader in ihren Zellen. Die Hinrichtung von Schleyer auf einer Waldwiese nahe der belgisch-französischen Grenze.

Die letzte Eintragung in dessen Terminkalender kurz vor dem Attentat in Köln am 5. September lautete: „Herold anrufen“. Der war Chef des Bundeskriminalamtes, dreiundfünfzig Jahre alt, Erfinder der Rasterfahndung, von seinen Bewunderern als genial, von seinen Kritikern als größenwahnsinnig bezeichnet.

Herold ist seit Ende 1980 nicht mehr im Amt, aber noch fünfzehn Jahre lang wurde er rund um die Uhr geschützt. Unter stetiger Bewachung zu leben, war nicht nur lästig – es war auch teuer. Um dem Staat die Kosten zu ersparen, hatte er nach seinem Rücktritt dem amtierenden Innenminister Gerhart Baum vorgeschlagen, dass er sich irgendwo im Ausland niederlassen könnte, wo ihn keiner kannte.

Zum Beispiel sei es möglich, dank seiner guten Kontakte zum FBI, in den USA eine neue Identität zu bekommen und fortan dort zu leben, ohne Bodyguards. Wo er nun seine Rente verzehre, sei doch letztlich egal. Er bat lediglich, was nicht zu viel verlangt schien angesichts seiner Lebensleistung für den Staat, um einen Kaufkraftausgleich zwischen Dollar und Mark. Aus formalen Gründen wurde der Antrag abgelehnt. Solange die RAF noch lebte, war in Deutschland sein Leben in Gefahr. Jetzt ist sie tot. Er sei der „letzte Gefangene im Volksgefängnis der RAF“, scherzte Herold. Der Scherz ist gar nicht so lustig, wie er klingt. Herold war zuletzt ein freier Mann, aber gefangen in der Vergangenheit.

Der 12. September 1977 veränderte sein Leben

Gefangen genommen wurde er an einem Tag in jenem deutschen Herbst. Es war der 12. September 1977. Danach war für ihn nichts mehr, wie es einmal war, danach hat sich sein Leben verändert.

An diesem Tag fährt er wie an jedem Tag, seit Schleyer entführt wurde, ins Kanzleramt. Außer ihm und Bundeskanzler Helmut Schmidt gehören nur noch vier weitere Männer zu diesem Kreis, der sich zweimal täglich schließt: Justizminister Hans-Jochen Vogel, Innenminister Werner Maihofer, Kanzleramtschef Manfred Schüler und Regierungssprecher Klaus Bölling. An diesem Tag soll nicht wie üblich zunächst Herold über den Stand der Dinge und die Ermittlungen referieren. Es ist im Landeskriminalamt in Düsseldorf, gerichtet an Oppositionsführer Helmut Kohl, ein Tonband eingetroffen, besprochen von Schleyer.

Wer zu denen gehört, die das Band aus dem sogenannten Volksgefängnis abholten und weiterleiteten, weiß er nicht. Herold war bis zuletzt davon überzeugt, „dass von denen, die aktiv an der Entführung und Ermordung Schleyers beteiligt waren, als Unterstützer, Sympathisanten, Helfer, allenfalls ein Drittel gefasst wurde, dass es aber noch viele andere geben muss, denn die Gefassten allein hätten eine solche Logistik nicht bewältigt“.

Die Kassette wird abgespielt. Die raue Stimme des Entführten füllt den Raum. Die Männer hören schweigend zu. Sie sind überzeugt, dass Schleyer gezwungen wurde zu sagen, was sie gerade hören, aber für einen unter ihnen ist es dennoch wie eine Verurteilung, mit der er von dem Tag an wird leben müssen. „Nachdem das BKA vor allem bei den vorbeugenden Maßnahmen eindeutig versagt hat, die Bundesregierung sich offenbar nicht zum Handeln entschließen kann, der Bundeskanzler…ebenfalls keine Entscheidung trifft, ist es nunmehr Aufgabe der Opposition, die Verantwortlichkeiten klarzustellen und offenzulegen. Ich bin nicht bereit, lautlos aus diesem Leben abzutreten, um die Fehler der Regierung, der sie tragenden Parteien und die Unzulänglichkeit des von ihnen hochgejubelten BKA-Chefs zu decken“, lautet die Anklage Schleyers.

Eine vertane Chance - bis heute hat er sie nicht verarbeitet

„Ich wusste in dem Moment“, sagte Herold, als er davon erzählte, „dass ich nur eine einzige Chance haben würde, mich gegen diese Anschuldigung zu verteidigen.“ Nämlich nur die, dass es ihm gelingen würde, Schleyer lebend und unverletzt zu befreien. Herold erhebt sich leichenblass, als Schleyers Stimme abbricht, will den Raum verlassen, doch der Kanzler hält ihn fest und drückt ihn wieder runter auf seinen Stuhl. Schmidt redet auf ihn ein, beruhigt ihn, versichert ihm, alle wüssten, dass Schleyer dies nicht freiwillig gesagt habe. Das Papierrascheln an der Stelle, an der Herold persönlich attackiert wird, sei doch ein eindeutiges Zeichen.

Die Chance, die Herold brauchte, auf die er in der ihm eigenen kühlen Professionalität gewartet hatte, wurde zwei Tage später vertan. Auch das hat er bis ins Jahr seines Todes nicht verarbeitet, hat bis zuletzt nicht akzeptiert, was andere Schicksal nennen. Ein dummer Zufall, eine blöde Panne. Im Fall Schleyer war es die letzte Gelegenheit, den Entführten zu befreien. Wenn dies gelungen wäre, würde es heute keinen gebrochenen Mann geben, der wie ein Gefangener in seiner Rosenheimer Festung lebt, sondern Horst Herold, den Helden.

Denn nach seinen damaligen Berechnungen konnten die Täter am 5. September nach Auslösung der Ringfahndung und der Straßensperren nicht weiter gekommen sein als fünfzehn Kilometer. In diesem Radius um den Ort des Überfalls in Köln herum mussten sie sich irgendwo versteckt haben. Außerdem vermutete er aufgrund der Tat- und Täterprofile, die er mithilfe der BKA-Computer nach früheren Attentaten hatte erstellen lassen, dass sie sich wegen der Fluchtwege in einem Hochhaus nicht weit von einer Autobahnausfahrt aufhielten, zudem mit einer Tiefgarage, von der aus sie direkt und unbeobachtet mit einem Fahrstuhl zu einer Wohnung fahren konnten, in der sie Schleyer gefangen hielten.

Wie sich herausstellen sollte, stimmten seine Prognosen.

Dicke Bündel von Geldscheinen in der Tasche

Der entsprechende Hinweis kam von der Vermieterin eines Appartements in Erftstadt-Liblar. Es handelte sich um ein Hochhaus in der Nähe der Autobahn, vierzehn Kilometer vom Tatort entfernt. Sie und der Hausmeister gaben bei der Polizei am 7. September, zwei Tage nach dem Attentat, eine Begegnung zu Protokoll.

Im Juli war ihnen nur seltsam vorgekommen, was sie gesehen hatten, bald war es wieder vergessen. Aber jetzt hatte das, was sie erlebten, plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Die Frau, die damals im dritten Stock eine Wohnung anmietete, habe die Kaution in Höhe von 800 Mark bar bezahlt und das Geld aus ihrer Handtasche geholt. Dabei waren dem Hausmeister dicke Bündel mit Geldscheinen aufgefallen.

Stets bar zu bezahlen, um mögliche Spuren zu verwischen, die von den Behörden über Kontobewegungen bei Banken hätten verfolgt werden können, gehörte zu den Methoden der Terroristen. So nachzulesen in den Täterprofilen, erstellt vom Bundeskriminalamt und seinem Chef Horst Herold.

Das Fernschreiben mit den Aussagen des Hausmeisters und der Vermieterin kam nie bei denen an, die daraus die richtigen Schlüsse hätten ziehen können. Es ging auf dem Dienstweg verloren. Die Spur der Spur verliert sich, nachdem ein Beamter der Kölner „Soko 77“, zuständig für alle Hinweise im Kölner Polizeipräsidium, am 10. September den Eingang bestätigt hatte. Die ermittelnden BKA-Beamten dagegen hätten nur den Namen der verdächtigen Mieterin in ihre Computerdatei PIOS – Personen, Institutionen, Objekte, Sachen – eingeben müssen und wären innerhalb weniger Sekunden auf einen der von Monika Helbig, einer lange gesuchten RAF-Angehörigen, benutzten Decknamen gestoßen. Doch sie erfuhren nichts von dem entscheidenden Hinweis.

"Wir wussten nicht, was wir wussten"

Herold schwieg dann. Die Erinnerung machte ihn im Jahr 2018 nicht mehr wütend, nur noch resigniert stumm. Ohne die Nachlässigkeit irgendeines anonym gebliebenen Beamten hätte Schleyer gerettet werden können, wahrscheinlich sogar unverletzt, zumindest lebend, denn die Einsatzkommandos des BKA waren für genau solche Fälle einer Geiselbefreiung ausgebildet worden. Jahrzehnte später legte Herold dann die rechte Hand an die Schläfe, als ob er sich auf das Wesentliche konzentrieren müsse, aber das Wesentliche lautete dann in einem lapidaren Satz kurz gesagt so: „Wir wussten nicht, was wir wussten.“

In dieser Niederlage ist sogar der Sieg verborgen, doch wer wollte davon etwas hören, als Schleyer tot aufgefunden worden war. Die heftig umstrittene Rasterfahndung des Buhmanns Horst Herold hatte sich nämlich bewährt. Sein Computersystem PIOS hätte, gefüttert mit den vorliegenden Informationen, deren Bedeutung erkannt und die nötigen Zusammenhänge hergestellt.

Hätte, wäre, wenn. Heute alles keiner Rede mehr wert. Ohne die sekundenschnelle Verknüpfung aller nur greifbaren Daten in Rechnern, egal wo auf der Welt, hätte man das Netzwerk des islamistischen Terrorismus nach der Attacke auf das World Trade Center niemals erkannt, geschweige denn in Teilen zerstört.

Die seit der Panne von Erftstadt-Liblar auf Herold lastende Bedrückung – obwohl er ja rational erklären konnte, sich und anderen, dass es nicht seine Schuld gewesen ist, nun wirklich nicht – wurde er nicht mehr los. Sein Satz über die Unfähigkeit des BKA-Präsidenten hat Schleyer - und nun auch Herold - überlebt.

Weil sein Antrag auf Auswanderung abgelehnt wird, muss er sich im eigenen Lande einrichten. Nicht irgendwo, denn er steht weiterhin auf der Liste möglicher Opfer ganz oben. Gesucht wird ein Ort, an dem er sich gut beschützen ließe. Man bietet ihm schließlich ein Areal auf einem Kasernengelände in Rosenheim an. Wahrlich nicht der Platz, den sich Herold für seinen Lebensabend freiwillig ausgesucht hätte. Der Gedanke an Isolationshaft drängt sich auf, aber das Wort ist besetzt von denen, die er einst verfolgte.

Im Oktober 2018 bringt mich der vereinsamte Jäger Horst Herold zum Bahnhof. Setzt mich ab, winkt und fährt zurück in seine Festung. Im „Hand-Orakel 262“ seines Hausphilosophen Gracian, das ich ein paar Tage später lese, finde ich den Satz: „Vergessen können – es ist mehr ein Glück als eine Kunst.“

Aber das wusste Horst Herold längst.

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