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Matthias Erzberger war 1919 und 1920 Reichsfinanzminister.

© ullstein bild via Getty Images/dpa

100 Jahre große Finanzreform: Matthias Erzbergers historischer Coup

Es war eine Revolution: Vor hundert Jahren entstand das moderne deutsche Steuersystem. Brauchen wir heute wieder eine?

Am Anfang stand die große Katastrophe. Das Deutsche Reich hatte 1918 einen Weltkrieg verloren. Die Reichsschulden hatten sich binnen vier Jahren von fünf auf 150 Milliarden Reichsmark vervielfacht. Das vom Kaiserreich angerichtete Finanzdesaster erbte die junge Demokratie, die damit klarkommen musste. Das Ergebnis: die große Finanz- und Steuerreform, die 1919 eingefädelt wurde. Als „regelrechte Revolution“ bezeichnet Stefan Bach, Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), die damaligen Reformen, die das deutsche Steuersystem bis heute prägen. Auf den Weg brachte das Mammutwerk der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Der größte Saal im Bundesfinanzministerium in der Wilhelmstraße ist nicht ohne Grund nach dem Politiker der katholischen Zentrumspartei benannt worden, der 1921 von Rechtsextremisten ermordet wurde. Auch ein Gebäude des Bundestags trägt seit 2017 Erzbergers Namen.

Erzberger ging es keineswegs nur um die Finanzierung der Kriegsfolgen, sondern auch darum, den beginnenden Sozialstaat mit Geld zu versorgen. So setzte er eines der größten Zentralisierungsprojekte in der deutschen Verfassungsgeschichte durch. Die Länder wurden quasi enteignet. Vor 1914 hatten sie steuerpolitisch den Hut auf, nun sollte das ganze Steuersystem einheitlich werden. Auch eine Reichsfinanzverwaltung, die es bis dahin nicht gegeben hatte, wurde aufgebaut. Das 1871 gegründete Reich war Kostgänger der Länder gewesen, nun drehte Erzberger den Spieß um. Fortan sollte die Macht über die Finanzen weitgehend in Berlin ausgeübt werden.

Riesiges Zentralisierungsprojekt

Die steuerpolitische Revolution begann im November 1919 ganz lapidar damit, dass die Weimarer Nationalversammlung die erste Reichsabgabenordnung verabschiedete, auf deren Basis die künftigen Reichsteuern erhoben werden konnten. Die „RAO“ war im Kern bis 1977 in Kraft, dann wurde sie durch die heutige Abgabenordnung ersetzt – das „Kind“ glich freilich der „Mutter“. In wenigen Wochen wurden 1919/20 die meisten Steuerarten „verreichlicht“. Völlig neu war damals die Umsatzsteuer, welche alle Schichten trifft, weil sie den Konsum verteuert. Die von Krieg, Hungerwinter und Revolution gebeutelten Deutschen machten nun auch mit den Möglichkeiten Bekanntschaft, die in der Einkommensteuer stecken. In ihr erkannte Erzberger das beste Mittel zum Zweck der möglichst breiten, aber auch progressiven Besteuerung der Bevölkerung nach Leistungsfähigkeit. Der automatische direkte Lohnsteuerabzug wurde ebenfalls eingeführt – eine feine Sache für den Fiskus, denn es stärkte den regelmäßigen Geldfluss in die Staatskasse. Umsatz- und Einkommensteuer sind bis heute die beiden Hauptsäulen der Staatseinnahmen.

Der Durchschnittssatz der Einkommensteuer lag vor 1914, als sie allein von Ländern und Kommunen erhoben wurde, bei mageren vier Prozent, mit einem doppelt so hohen Spitzensteuersatz. Dieser stieg nun auf 60 Prozent. Unternehmen wurden mit einer Körperschaftsteuer belegt, der Satz betrug 20 Prozent (mehr als heute mit 15 Prozent). Stefan Bach hat errechnet, dass die Steuerquote, also der Anteil der Wirtschaftsleistung, den der Staat abschöpft, bis 1925 auf 15 Prozent stieg – nahezu eine Verdopplung im Vergleich zu den Vorkriegsjahren. Zum Kriegsschock trat nun der Belastungsdruck. Die Erbschaftsteuer wurde erhöht, eine Vermögensbesteuerung kam hinzu.

Mehr Steuern auf Vermögen

Vermögenswerte wurden stärker herangezogen als vorher, aus Gründen des leichteren Zugriffs und auch der Gerechtigkeit wegen. Bach hat herausgefunden, dass vermögensbezogene Steuern (also auf Grund und Boden, Erbschaften und Geldvermögen) in den 20er-Jahren ein Viertel der Steuersumme ausmachten und auch noch dreißig Jahre später in der frühen Bundesrepublik eine nennenswerte Rolle spielten. Heute dagegen gibt es gar keine Vermögensteuer mehr, die Erbschaftsteuer ist ein Randphänomen. „Die Masse füllt die Kasse“, wie Bach es formuliert – die breite Mitte vor allem finanziert den Staat. Die Steuerquote liegt seit Jahrzehnten bei mehr als 20 Prozent.

Manche hätten auch deswegen gerne wieder eine Revolution im Steuersystem. Friedrich Merz hat Geschichte gemacht mit der Bierdeckel-Idee für die Steuererklärung, der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof wirbt seit Jahren – vergeblich – für ein einfaches Steuersystem, der Bund der Steuerzahler verdient sein Geld mit regelmäßigen Steuersenkungsforderungen. Doch wie aussichtsreich sind weit reichende Vorschläge? Ökonomen und Juristen haben ihre Zweifel, weil sie erkennen, dass Politiker in ruhigeren Zeiten als nach einem Weltkrieg allenfalls zu maßvollen Einschnitten in ein aus ihrer Sicht funktionierendes System neigen. Die Kölner Steuerrechtsprofessorin Johanna Hey meint daher, dass in dem über ein Jahrhundert gewachsenen Steuersystem allenfalls kleine Reformschritte möglich seien. Doch häufig erschöpfe sich Steuerpolitik nur noch in „Symbolgesetzgebung“.

Radikale Änderungen unwahrscheinlich

Auch der Wirtschaftsweise Achim Truger ist skeptisch, was radikale Änderungen betrifft. Doch glaubt er, dass die Verteilungsfrage wieder zu einem größeren Thema werden wird. Zur Vermögensteuer ist die Debatte kontrovers. Truger ist der Meinung, mit der Wiedererhebung der nach einem Karlsruher Urteil ausgesetzten Steuer ließen sich zehn bis zwanzig Milliarden Euro einnehmen. Hey hält dagegen, dass die Umsetzung der Vermögensteuer schwierig sei. „Bewertungsfragen sind problematisch“, sagt sie.

Doch sind sich viele Wissenschaftler einig, dass eine andere Erbschaftsteuer eine kluge Sache wäre. Die letzte Reform von 2016 sei eine „verschenkte Gelegenheit gewesen“, etwas zum Besseren zu wenden, beklagt Truger. Häufig gehen die Vorschläge dahin, statt des jetzigen komplizierten Modells mit hohen Steuersätzen, beträchtlichen Freibeträgen und großzügigen Steuerbefreiungsmöglichkeiten bei Betriebsvermögen eine einfachere Lösung zu suchen – mit deutlich geringeren Steuersätzen und weniger Ausnahmen. Truger plädiert dagegen dafür, das System im Kern zu belassen, dafür aber eine Mindestbesteuerung auf Erbschaften einzuführen, damit Betriebsvermögen nicht völlig verschont werden können. Hey kann sich vorstellen, auch bei den Freibeträgen anzusetzen.

Eine Parteispaltung als Folge

Die Finanzverwaltung immerhin hat eine Gegenrevolution erlebt, aber das war auch schon vor 70 Jahren – damals bekamen die Länder die Verwaltungshoheit wieder zurück, auch aus der Erfahrung heraus, dass die Weimarer Machtballung beim Reich in der Endphase mit den autoritären Präsidialregierungen ihre Nachteile hatte. Auf mehr Ländermacht in der Finanzverwaltung hatte 1949 vor allem Bayern gedrungen. Das kam nicht von ungefähr. Denn eine parteipolitische Folge der Finanzreform vor hundert Jahren prägt die Politik in Deutschland auch bis heute. Wegen des strikt zentralistischen Kurses von Erzberger, der deswegen in seiner Partei kritisiert wurde, spaltete sich das Zentrum. Genauer gesagt: Die bayerische Landespartei ging fortan als Bayerische Volkspartei eigene Wege. Deren Nachfolgerin ist die CSU.

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