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Da fehlt was. Die Unternehmen würden vielen Beschäftigten – zum Beispiel Älteren – keine Weiterbildungsangebote machen, kritisiert das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 2009 beschlossen CDU und FDP, dass die gelb-schwarze Koalition eine „Weiterbildungsallianz“ gründen solle. Passiert ist seitdem nichts. Foto: Imago

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Wirtschaft: Abgehängt

Bei der Weiterbildung gibt es ein Zwei-Klassen-System, sagen Gewerkschafter und die EU: Gut Qualifizierte bekommen Angebote, Zeitarbeiter und Minijobber haben dagegen kaum Chancen, Kurse zu besuchen.

Für mehr Wissen ist Ina Orbitz bereit, einiges zu investieren: Freizeit, Engagement – und Geld. Seit Juli nimmt die 36-Jährige an einer Weiterbildung an der Alice-Salomon-Hochschule teil, das Thema: „Pädagogik für Vermittlung sozialer Kompetenzen und Gewaltprävention“. Ein Jahr lang sitzt sie ein Wochenende pro Monat im Seminar, 2000 Euro bezahlt sie privat für den Zertifikatskurs. „Im pädagogischen Bereich bin ich Quereinsteigerin“, sagt die Volkskundlerin, die als festangestellte Schulhelferin an einer Grundschule im Wedding zwei autistische Kinder betreut. „Mit der Weiterbildung will ich meine Arbeit systematisieren.“ Ihr Plan: Künftig will sie zusätzlich freiberuflich Trainings für Schulklassen anbieten.

Schule, Ausbildung oder Studium, Festanstellung bis zur Rente: Dieser Weg wird zum Auslaufmodell. Anforderungen ändern sich, die Beschäftigten müssen sich anpassen. „Lebenslanges Lernen“ ist zur Maxime geworden für Bildungspolitiker und Arbeitsmarktexperten. Ina Orbitz liegt da im Trend: Sie hat sich mit der pädagogischen Arbeit ein neues Standbein aufgebaut, plant bereits zukünftige Weiterbildungen.

Ina Orbitz ist als Akademikerin aber auch: privilegiert. Denn trotz des Konsenses über die Bedeutung des lebenslangen Lernens zeigt sich in der Praxis: Ausgerechnet diejenigen, die am dringendsten eine Weiterbildung bräuchten, kommen zu kurz. „Wir haben in Deutschland eine Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Weiterbildung“, sagt Matthias Anbuhl, Abteilungsleiter Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Während gut ausgebildete junge Vollzeit-Arbeitskräfte sich regelmäßig weiterqualifizieren, haben Geringverdiener, Minijobber, Teilzeitkräfte und Beschäftige mit geringem Schulabschluss kaum Chancen auf Fort- und Weiterbildung. „Wer hat, dem wird gegeben“, sagt Anbuhl.

Anbuhl ist Autor eines kürzlich veröffentlichten Berichtes, für den der DGB die Weiterbildungsbeteiligung detailliert analysiert hat. Untersucht wurden unter anderem Daten des Statistischen Bundesamts, der Statistikbehörden der Bundesländer und des Bundesinstituts für Berufsbildung. 2011 haben demnach 48 Prozent der Vollzeitbeschäftigten an Weiterbildungen teilgenommen aber nur 36 Prozent der Teilzeitkräfte. Noch größer ist die Differenz in Bezug auf die Qualifikation: Bei Führungskräften liegt die Weiterbildungsbeteiligung bei 77 Prozent, bei an- und ungelernten Arbeitskräften bei 37 Prozent; 64 Prozent der Erwerbstätigen mit höherem Schulabschluss nahmen 2011 an einer Weiterbildung teil, aber nur 32 Prozent derjenigen mit Hauptschulabschluss. Insgesamt haben dem Bericht zufolge 2011 etwa 7,8 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland zwischen 25 und 64 Jahren an einer Weiterbildungteilgenommen.

Damit bleibt Deutschland weit hinter Vorgaben der Europäischen Union zurück. Der Rat der EU hatte bereits 2003 festgelegt, dass bis 2010 jährlich 12,5 Prozent der Menschen zwischen 25 und 64 Jahren an Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen sollen – was auch im EU-weiten Durchschnitt (8,9 Prozent) nicht erreicht wurde. Bis 2020 wurde dieser Index auf 15 Prozent erhöht. Dabei definiert die EU die Weiterbildungsbeteiligung sehr eng, nämlich als Anteil derjenigen, die in den vier Wochen vor der Befragung an einer Weiterbildung teilgenommen haben. Von den 27 EU-Mitgliedstaaten haben nur Dänemark, Schweden, Finnland, die Niederlande, Slowenien und Großbritannien die Zielvorgabe übertroffen.

Auch die deutsche Politik hat das Thema Weiterbildung schon länger auf der Agenda. So beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder 2008, dass die Weiterbildungsbeteiligung bis 2015 bei 50 Prozent liegen soll; der deutsche Index ist dabei wesentlich bereiter definiert als der EU-Wert und umfasst für den Zeitraum von 16 Monaten vor der Befragung alle Arten an Weiterbildung, darunter auch private Qualifikationen wie Fahrprüfungen und Trainerscheine. Im Koalitionsvertrag von 2009 bekundeten Union und FDP ihre Absicht, mit Ländern, Sozialpartnern, Arbeitsagenturen und Bildungsträgern eine „Weiterbildungsallianz“ zu schmieden – die es bis heute nicht gibt. „Bislang ist es bei Lippenbekenntnissen geblieben“, sagt Anbuhl.

Immerhin: Die Weiterbildungsbeteiligung steigt. So stellt der im Auftrag der Bundesregierung erstellte Trendbericht Weiterbildung von 2010 bis 2012 einen Anstieg von 42 auf 49 Prozent fest. Auch Untersuchungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bestätigen das. „Das ist grundsätzlich positiv“, sagt Ute Leber, Wissenschaftlerin am IAB. Solange die Konjunktur gut sei, werde dieser Trend auch anhalten. Doch auch die Nürnberger Arbeitsmarktforscher kommen in ihren Detailanalysen, in die Betriebsdaten ebenso einfließen wie Befragungen, zum gleichen Ergebnis wie der DGB: „Es gibt eine Spaltung“, sagt Leber. Geringqualifizierte und ältere Arbeitnehmer seien ebenso benachteiligt wie diejenigen in atypischer Beschäftigung, etwa in Zeitarbeit. So habe etwa eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kürzlich ergeben, dass atypisch Beschäftigte nur sehr selten an Weiterbildungen teilnehmen – und darüber sehr unzufrieden sind. „Daraus können wir schließen, dass die Unternehmen diesen Beschäftigten kaum Angebote machen“, sagt Leber.

Das fehlende Angebot der Unternehmen für bestimmte Beschäftigte ist der Volkswirtschaftlerin zufolge einer der Gründe für die Kluft in der Weiterbildungsbeteiligung. Außerdem hätten viele Geringqualifizierte Hemmungen, Fortbildungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Etwa diejenigen, die schlecht in der Schule waren oder ältere Arbeitnehmer, bei denen das Lernen schon lange zurückliege. „Und gerade bildungsferne Gruppen sind oft schlecht informiert, wissen wenig über Angebote und Fördermöglichkeiten“, sagt Leber. Um auch diese Beschäftigten zu erreichen, fordert der DGB bessere Informationsmöglichkeiten. „Wir brauchen trägerunabhängige Beratungsangebote, an die sich die Beschäftigte und Betriebe wenden können“, sagt Matthias Anbuhl. Auch Ute Leber hält diese Idee für sinnvoll.

Mehr Informationsmöglichkeiten reichen aber aus Sicht des DGB noch nicht aus, um alle Gruppen zu erreichen. „Nötig dafür ist eine bessere finanzielle Förderung für die Erwachsenenbildung. Vor allem das Nachholen von Schul- und Berufsabschlüssen muss gefördert werden“, sagt Anbuhl. Zwar gibt es die Bildungsprämie (siehe Kasten), doch die reiche für Geringverdiener nicht aus. Der DGB fordert deshalb die Einführung eines Erwachsenen-Bafögs.

In Schweden gibt es ein solches Erwachsenen-Bafög seit vielen Jahren. Es dürfte aber nicht der einzige Grund dafür sein, dass Schweden im EU-Vergleich mit 24,9 Prozent die zweithöchste Weiterbildungsbeteiligung hat, hinter Dänemark mit 32,3 Prozent. „Bei uns zieht sich die soziale Auslese durch das gesamte Bildungssystem auf Spaltung ausgerichtet. Das beginnt im Kindergarten und setzt sich in den Schulen und bis in die Weiterbildung fort“, sagt Anbuhl. „In Skandinavien gilt der Anspruch: Wir lassen keinen zurück.“

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