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Wirtschaft: Abschied vom Gratis-Arztbesuch

Einer der Grundssätze des britischen Gesundheitswesens National Health System (NHS) ist, daß medizinische Behandlung kostenlos ist.Erst vor sechs Monaten erklärte Premierminister Tony Blair, daß dieses Prinzip weiterhin gelte.

Einer der Grundssätze des britischen Gesundheitswesens National Health System (NHS) ist, daß medizinische Behandlung kostenlos ist.Erst vor sechs Monaten erklärte Premierminister Tony Blair, daß dieses Prinzip weiterhin gelte.Nun mußte die Regierung einräumen, daß dieses Ideal in Zukunft nicht immer zu verwirklichen sein wird.

Der Sturm auf das Potenzmittel Viagra zwang die Regierung zu der politischen Wende.Viagra würde die Kosten der Impotenzbehandlung auf über 100 Mill.Pfund im Jahr verzehnfachen, schätzt die Regierung.Das würde das Gesundheitssystem zwar noch verkraften, wenn an anderer Stelle dafür gekürzt wird.Doch ginge dies nach Ansicht der Regierung zu Lasten anderer, wichtigerer Bereiche der Gesundheitsversorgung.Der einzige Ausweg sei daher, das Potenzmittel nicht in jedem Fall zu finanzieren, kündigte Gesundheitsminister Frank Dobson nun an.Im Viagra will das NHS zum ersten Mal Medikamente aus Kostengründen ausschließen.Bisher war allein die Wirksamkeit eines Medikaments ausschlaggebend dafür gewesen, ob es von der Allgemeinheit finanziert wird oder nicht.

Die britische Regierung tat sich mit der Rechtfertigung dieser Grundsatzfrage sehr schwer.Zunächst argumentierte sie, daß Impotenz weder lebensbedrohlich noch sehr schmerzhaft sei.Die britischen Ärzte hielten dagegen, daß die meisten Krankheiten das Leben nicht gefährden und viele auch keine besonderen Schmerzen bereiten.Dann erfuhr die Öffentlichkeit, daß die Ursache der Impotenz für die Behandlung mit Viagra auf Kosten des Gesundheitssystems entscheidend ist.Zu den Auserwählten gehören Patienten, die Multiple Sklerose oder Diabetes haben.Nicht berechtigt sollten dagegen Männer mit Herzleiden, hohem Blutdruck, Nierenerkrankungen oder Depressionen sein.Damit handelte sich die Blair-Regierung noch mehr Spott ein.Die unterschiedliche Behandlung der Patienten verletze das ärztlichen Berufsethos, klagte die Ärztevereinigung.Premierminister Blair und Gesundheitsminister Dobson wiesen die Klagen zwar zurück.Insgesamt aber bleibt ein großes Unbehagen darüber, daß die Bürokratie nun über die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten medizinische Behandlungen entscheidet.

Teil des Dilemmas von Dobson und Blair ist die Überzeugung der meisten Briten, sie hätten ein "kostenloses" Gesundheitssystem.Argwöhnisch verfolgen sie alle Versuche, es zu "reformieren".Das führte dazu, daß das öffentliche Gesundheitswesen weder unter den Konservativen noch unter der Labour Partei angetastet wurde.Der Fall Viagra macht deutlich, welche Probleme auftauchen, wenn die Regierung behauptet, sie versorge die Bevölkerung mit einer kostenlosen Leistung.Medizinische Behandlung ist teuer und die öffentliche Hand hat nur ein begrenztes Budget.Und irgendwann steht man vor der Entscheidung, entweder das Budget zu sprengen, oder die vermeintlich kostenlose medizinische Versorgung einzuschränken.New Labour hat sich nun für das zweite entschieden.

Das könnte unerbittlich zu größerer Privatisierung führen.Bereits jetzt fällt nahezu die gesamte Zahnpflege in den privaten Zuständigkeitsbereich.Es wäre logisch, auch bei verschreibungspflichtigen Medikamenten die Last mit der Privatwirtschaft mehr zu teilen.Auch hierbei muß die Regierung mit Beschwerden rechnen.Aber in diesem Fall liegt die Schuld bei früheren Regierungen, vor allem Labour Regierungen, die der Bevölkerung so fest die Vorstellung eingeimpft haben, daß es so etwas wie einen kostenlosen Arztbesuch gibt.

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