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Die deutschen Zwillinge Lisa und Lena sind im Netz so populär wie Fußballstars.

© CHRISTIAN CHARISIUS/DPA

Ärger um freizügige Clips: Was hinter dem Phänomen Musical.ly steckt

Viele Musikstars setzen auf Musical.ly, die größten Lieblinge der Teenie-App kommen aus Deutschland. Doch die App hat ein Missbrauchs-Problem.

Wenn Falco Punch sein Smartphone zückt, sorgt er schnell für Erstaunen. Der blondierte junge Mann mit den blauen Augen öffnet ein Video, in dem er singt. Plötzlich befördert der Teenieschwarm wie ein Zauberer mit einer Handbewegung ein junges Mädchen neben sich ins Bild. Ein schneller Schnitt. Das Bild verkleinert sich und es sieht so aus, als ob der Punch im Video das Display ins Telefon hineinzieht. Das Bild von ihm, das dort eben noch zu sehen war, hält er nun wie ein Foto in der Hand und zerknüllt es. Wieder ein Schnitt. Eine ältere Frau ist neben ihm zu sehen. Genauso schnell löst sie sich wieder in Pixel auf. „Nun ist meine Mutter explodiert“, sagt Punch.

Die Kurzclips des jungen Mannes, der sich gern ein Tuch um die Stirn bindet, dauern maximal 15 Sekunden und sind enorm populär. „Hier, das habe ich gestern Abend hochgeladen“, sagt der 21-jährige. Fast 300 000 Menschen haben es schon nach wenigen Stunden angesehen.

Youtube der Generation Z

Trotzdem dürften die meisten Deutschen von der Videoplattform, die Punch dabei nutzt, noch nie gehört haben. Musical.ly heißt die keine vier Jahre alte App. Vor allem bei jungen Teenagern ist sie enorm populär. 250 Millionen Nutzer haben sich weltweit schon registriert, auch in Deutschland sind es bereits mehr als zehn Millionen. „Unsere Zielgruppe ist die Generation Z“, sagt die für Europa zuständige Managerin Verena Papik. „Das ist die erste Generation, die eine Welt ohne Internet und Smartphone nicht mehr kennt.“

Mit Musical.ly zum deutschen Justin Bieber

Bekannt geworden ist Musical.ly als eine Art umgekehrte Karaoke-App: Die Nutzer können zu bekannten Musiktiteln Videos mit dem Smartphone aufnehmen, in denen sie die Lippen bewegen und tanzen. Auch heute noch sind diese Playback-Videos am populärsten.

Falco Punch wurde mit Musical.ly zum Teenieschwarm
Falco Punch wurde mit Musical.ly zum Teenieschwarm

© Promo

Und da die Nutzer dabei auch eigene Musik hochladen können, ist Musical.ly auch eine beliebte Plattform bei Nachwuchskünstlern wie Mike Singer. Ende Januar ist das neue Album des 18-Jährigen auf Platz eins der deutschen Charts eingestiegen.

Er wird gern als „deutscher Justin Bieber“ bezeichnet und hatte auch mit Coverversionen des US-Teeniestars angefangen. Doch während Bieber seine Karriere einst noch YouTube verdankte, ist für Singer Musical.ly längst wichtiger: 1,2 Millionen Fans haben dort seine Videoclips abonniert, bei YouTube sind es „nur“ 618 000. Und so ist Musical.ly dabei, der Videoplattform den Rang als beliebtester Tummelplatz für Nachwuchsmusiker abzulaufen.

Das gilt nicht nur für Musik. „Bei YouTube gibt es schon Millionen Videos, da ist es total schwer, gefunden zu werden“, sagt Florian Kaulen. Der 16-Jährige kann mit dem Fußball besser jonglieren als derzeit viele Profis des HSV. Am Anfang hat er die Videos mit seinen Tricks bei YouTube veröffentlicht, doch seit einem halben Jahr setzt er auf Musical.ly und hat dort nun auch schon fast 330 000 Fans. Sogar Adidas sponsert den Rheinländer bereits.

Selbst Fußballclubs wie der 1. FC Köln nutzen Musical.ly

Für Musical.ly sind Nutzer wie Kaulen besonders interessant, denn die Plattform will sich neu erfinden. „Wir vollziehen gerade einen Strategiewechsel“, sagt Musical.ly-Managerin Papik. Weg von den Clips mit singenden und tanzenden Teenies, hin zu einer „Entertainmentplattform für junge Erwachsene“. Und dabei spielt Sport eine zentrale Rolle. „Wir wachsen in dem Bereich am stärksten und wollen da auch weiter investieren", sagt Papik. Die US-Basketballliga NBA, Pep Guardiolas Manchester City und sogar der 1. FC Köln nutzen die Plattform bereits. Sie zeigen dort coole Begrüßungen per Handschlag oder Tricks aus dem Training. Allerdings singen auch die Sportstars besonders gern zu beliebten Hits.

Für eine Milliarde Dollar verkauft

Der Versuch, breitere Schichten zu erreichen, hängt auch mit einem Eigentümerwechsel zusammen. Ende 2017 wurde die App vom chinesischen Medienunternehmen Bytedance übernommen, es zahlte dafür schätzungsweise eine Milliarde Dollar. Bytedance will Musical.ly zudem auch in Asien populärer machen, denn obwohl das Unternehmen 2014 von dem Chinesen Alex Zhu gegründet worden war, war es bislang in westlichen Ländern am erfolgreichsten.

Die größten Lieblinge der Plattform kommen dabei aus Deutschland. Die schwäbischen Zwillinge Lena und Lisa haben selbst die populärsten US-Stars abgehängt. Ihren Aufstieg verdanken die blonden Zahnspangenträgerinnen Clips wie dem, wo eine von beiden scheinbar vor einem Spiegel singt und tanzt – bis die Zwillingsschwester ihr gegenüber die Illusion auflöst.

Ärger um freizügige Clips von Kindern

Doch längst nicht alle Videos sind harmlos, wie die Filmchen der berühmten Zwillinge mit den Zahnspangen. Schaut man genauer hin, finden sich unter den Milliarden Clips auch vereinzelt freizügigere Aufnahmen, nicht selten von jungen Nutzerinnen. „Ein Weg zu großer Aufmerksamkeit und Anerkennung, da funktioniert Musical.ly nicht anders als das professionelle Showgeschäft, ist das Zeigen von sehr viel Haut. Bei Musical.ly handelt es sich erschreckend oft um die Haut sehr junger Mädchen“, berichtete das von der Bundesregierung unterstützte Infoportal mobilsicher.de am Wochenende. Die Verbraucherschützer warnten vor Missbrauch und sexueller Nötigung.

„Einige Nutzer erstellen Sammlungen, die sich nur auf aufreizende Selbstdarstellungen von Kindern konzentrieren“, erklärt Inga Pöting von mobilsicher.de. Andere würden versuchen, direkt zu den jungen Mädchen Kontakt aufzunehmen - etwa indem sie eine Telefonnummer schicken oder sie auffordern, per Messenger weiter zu kommunizieren. Einige Mädchen seien nicht älter als sieben oder acht Jahre. Am Montag bat die Deutsche Presse-Agentur Musical.ly um eine Stellungnahme. Wenige Stunden später war ein Teil der zitierten Hashtags wie etwa #bellydancing oder #bikini nicht mehr abrufbar. Am Dienstag sprach das Unternehmen, das im November von der chinesische Medienfirma für rund eine Milliarde Euro gekauft worden war, von einem „komplexen Problem“, das es als Branche zu lösen gelte. „Musical.ly verfügt über eine Vielzahl an Schutzmaßnahmen und gewährleistet eine Moderation rund um die Uhr, um die Möglichkeiten einer missbräuchlichen Nutzung der App zu reduzieren“, hieß es. Leider seien diese Schutzmaßnahmen nicht immer tadellos. Solche Missbrauchsbeispiele spielgelten aber nicht die typischen Inhalte oder Nutzungsmuster der App wider.

Musical.ly-Stars weit populärer als Promis wie Heidi Klum

Da dominieren eben doch Lisa und Lena und alle die ihnen nacheifern. In zwei Jahren sind die beiden Social-Media-Superstars geworden. Längst nutzen sie auch Instagram und liegen dort hinter Mesut Özil und Toni Kroos auf Platz drei der populärsten Deutschen. 12,5 Millionen Fans haben sie auf der Plattform, Heidi Klum bringt es gerade einmal auf 4,3 Millionen. Doch mit Musical.ly spielen sie noch in einer ganz anderen Dimension: Dort folgen ihnen sogar 27 Millionen Fans.

Das brachte den Schwestern eine Gastrolle im letzten Film von Matthias Schweighöfer, in Drogerien werden rosa Haargummis mit dem Bild der beiden verkauft und der Musikkonzern Warner vermarktet mit den 15-Jährigen eine eigene Modekollektion. Dazu gehören auch „Leliletten“: Auf dem linken Schlappen steht Lena, auf dem rechten Lisa.

Die Mädchen haben inzwischen den gleichen Manager wie einst Tokio Hotel. Fragt sich nur, wie lange der Erfolg dieser Teeniestars anhält. „Eigentlich ist man mit 14 Jahren fast schon zu alt für Musical.ly“, sagt Falco Punch. Aber er hat diese Grenze auch schon um einige Jahre überschritten.

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