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Agenda 2030: Was sich in Deutschland ändern muss.

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Agenda 2030: Was sich in Deutschland ändern muss

Wirtschaftlicher Erfolg ist harte Arbeit, Deutschland darf sich auf seinem Erfolg nicht ausruhen. Fünf Ökonomen fordern Reformen.

Deutschland sei der „kranke Mann Europas“, titelte die amerikanische Zeitung „Wall Street Journal“ vor nicht mal zwanzig Jahren. Dann kam Bundeskanzler Gerhard Schröder und zettelte mit der „Agenda 2010“ ein Reformprogramm an, das beides war: beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik und so umstritten wie kein anderes zuvor.

Deutschland handelte damals aus der Position der Schwäche heraus, die Bundesregierung musste liefern, denn sie hatte keine andere Wahl. Die Arbeitslosigkeit war prozentual zweistellig, der private Konsum befand sich im Sinkflug, die Lohnnebenkosten stiegen. Kurzum, die Stimmung im Land war gedrückt.

Viel ist seither passiert. Wer in den vergangenen Wochen und Monaten die Pressemitteilungen und Verlautbarungen aus den Wirtschaftsinstituten und Ministerien verfolgt hat, konnte über steigende Wachstumsprognosen und eine sinkende Staatsverschuldung lesen. Die Zahl der Beschäftigten stieg von Rekordhoch auf Rekordhoch, die Stimmung der Verbraucher war glänzend, und der Außenhandel boomte.

Deutschland hat sich zu Europas Wachstumslokomotive entwickelt und gilt weltweit als volkswirtschaftliches Vorbild. Eitel Sonnenschein also, überall in deutschen Landen? Leider nicht.

Noch melden die deutschen Konzerne hohe Gewinne

Denn während Griechenland mit dem Staatsbankrott kämpft, Frankreich einen Weg aus dem Reformstau sucht und selbst die Schweiz – einst ein Hort der wirtschaftlichen Stabilität – unter dem hohen Kurs der Landeswährung ächzt, wird nur zu gerne übersehen, dass auch hierzulande nicht alles so läuft, wie es die Flut der guten Nachrichten vermuten lässt. Zwar erwirtschaften Traditionskonzerne wie Siemens, Daimler und Bayer heute Milliardenüberschüsse.

Ob sie es aber morgen noch tun, bleibt abzuwarten. Und wer einmal in die Fußstapfen von Gottlieb Daimler oder Werner von Siemens treten könnte, ist auch nicht sicher: Die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, ein Unternehmen zu gründen, sinkt seit Jahren – das zeigen alle verfügbaren Statistiken. „Deutschland steckt in einer Gründungsmisere“, stellte Eric Schweitzer, Präsident des Industrie- und Handelskammertage (DIHK), kürzlich fest. Viele weitere Probleme belasten unser Land: Seit Jahren warnen Unternehmer und Ökonomen vor den Folgen des demografischen Wandels, vor leeren Rentenkassen und dem Fachkräftemangel.

Strukturreformen hat es in Deutschland zuletzt nicht gegeben

Allein: Es passiert nicht viel. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in den vergangenen Jahren das Land zwar gut verwaltet, Strukturreformen hingegen hat sie nicht gewagt. Nicht nur unter Unternehmenschefs und Wirtschaftswissenschaftlern, sondern auch in der eigenen Partei werden die Rufe deshalb lauter, die von der Kanzlerin mehr Mut zu Taten einfordern.

„Nicht die Zahl und die Größe von Schlagzeilen, die ein Politiker macht, sind Gradmesser für eine richtige Politik. Zu einer guten Wirtschaftspolitik gehört vor allem der Mut zum Widerstand und auch zur Unpopularität“, hatte Ludwig Erhard einmal gesagt – die Kanzlerin sollte sich seine Worte zu Herzen nehmen.

Der Tagesspiegel hat fünf führende Wirtschaftswissenschaftler gefragt, was sich in unserem Land verändern muss, damit Deutschland auch in einigen Jahrzehnten noch gute, glänzende Schlagzeilen schreibt. Herausgekommen ist unsere Agenda 2030, die beides sein soll: Diskussionsanstoß und Mahnruf. Deutschland geht es gut – wir sollten dafür sorgen, dass es so bleibt.

Claudia Kemfert, DIW: Mehr Energieeffizienz!

Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fordert mehr Energieeffizienz.
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fordert mehr Energieeffizienz.

© dpa

"Der Klimacountdown tickt. Im Jahr 2030 feiert die Energiewende eine Art Bergfest. Denn bis zum Jahre 2050 soll sich der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung von heute etwa 28 Prozent auf 80 Prozent erhöhen. Das Zwischenziel für 2030 heißt: 50 Prozent! Zu tun gibt es bis dahin aber mehr als genug.

Das Energiesystem in Deutschland braucht einen Komplettumbau: Bis 2022 werden ohnehin die verbliebenen Atomkraftwerke abgeschaltet, auch die in Süddeutschland. Um die Klimaschutzziele nicht zu verfehlen, muss auf den Atomausstieg jedoch zügig ein Kohleausstieg folgen. Das ist auf Kraftwerksebene technisch möglich, erfordert jedoch ein flexibles, intelligentes und ganzheitliches Energiesystem.

Mittelfristig brauchen wir vielfältige Speicher und intelligente Netze statt fossiler Energien und einfältiger Strukturen. Dafür müssen dringend die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Klimaschutz und Nachhaltigkeit gibt es zudem nicht nur im Stromnetz, sondern auch in der Gebäudetechnik und in der Mobilität: Öl mag kurzfristig billig sein, aber auf lange Sicht ist es für die chemische und pharmazeutische Industrie viel zu wertvoll, um es einfach gedankenlos in Automotoren und Heizungsanlagen zu verbrennen.

Am kostengünstigsten wird die Energiewende, wenn wir mit weniger Energie mehr Leistung produzieren.

Stichwort: Effizienz! Die „Agenda 2030“ ist eine Investition in eine klimagerechte Zukunft und ein Wirtschaftsmotor, der die ökologischen Risiken reduziert und die ökonomischen Chancen vergrößert."

Claudia Kemfert ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin

Hans-Werner Sinn, Ifo-Institut: Mehr Vorsorge!

Ifo-Chef Hans-Werner Sinn fordert mehr Vorsorge.
Ifo-Chef Hans-Werner Sinn fordert mehr Vorsorge.

© dpa

"Das wichtigste Thema, das sich mit dem Jahr 2030 verbindet, ist die Demografie, denn die Babyboomer, die 1965 geboren wurden und nun 50 Jahre alt sind, werden dann 65 sein und das derzeit normale gesetzliche Rentenalter erreichen. Dieser Generation geht es heute besser, als es je einer Generation zuvor ging, weil sie sich die Finanzierung ihrer kinderreichen Eltern über das Rentensystem noch mit sehr vielen Geschwistern teilen kann und selbst nur noch ganz wenige Kinder zu ernähren hat. Aber es wird genau diese Generation sein, die mit voller Wucht von Deutschlands demografischer Krise getroffen werden wird.

Deutschland hat je 1000 Einwohner weniger Neugeborene als jedes andere entwickelte Land dieser Erde, wenn man die Kinder der Migranten herausrechnet. Aber selbst wenn man sie mitrechnet, liegen wir hinter Japan und Korea auf dem drittletzten Platz unter den OECD-Ländern. Trotz der Migration wird es nach der mittleren Prognose des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2030 doppelt so viele Alte ab 65 Jahren in Relation zu den Jungen von 15 bis 64 Jahren geben wie noch im Jahr 2000. Das bedeutet entweder doppelte Beitrags- und Steuerlasten in Relation zu den Arbeitseinkommen der aktiven Bevölkerung oder halb so hohe Renten. So oder so bahnt sich ein Verteilungskonflikt an, der das Staatswesen erschüttern kann.

Deutschland tut gut daran, sich schon heute darauf vorzubereiten. Dazu gehört der Ausbau der kapitalgedeckten Rentensäulen, der Einstieg in die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die Verbesserung der Migrationspolitik, der rechtzeitige Abbau der Staatsverschuldung, ein rascher Ausstieg aus den ohnehin unwirksamen europäischen Rettungsprogrammen und vieles mehr."

Hans-Werner Sinn ist Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München

Lars P. Feld, Walter Eucken Institut: Mehr Innovation!

Lars P. Feld vom Walter Eucken Institut fordert mehr Innovation.
Lars P. Feld vom Walter Eucken Institut fordert mehr Innovation.

© dpa

"Die deutsche Wirtschaft steht zurzeit als das Powerhouse Europas da, mit hohem Beschäftigungsstand, ordentlichem Wirtschaftswachstum bei Preisstabilität und hohem Leistungsbilanzüberschuss. Die Qualität deutscher Produkte sorgt dafür, dass die Nachfrage im Ausland hoch ist. Die Innovationstätigkeit deutscher Firmen scheint kein Problem.

Der Schein trügt. Die alten Tugenden der großen Dax-Konzerne und des deutschen Mittelstands machen diese Stärke möglich. Gewagte Investitionsprojekte werden aber eher in anderen Ländern, in den USA oder Asien, verwirklicht. Gewagte Projekte bringen große Gewinnchancen, aber zugleich hohe Verlustrisiken mit sich. Neue unkonventionelle Ideen, etwa von Start-up-Unternehmen, sorgen dabei für im Schnitt hohe Margen. Deutschlands Start-up-Szene ist jedoch unterentwickelt.

Dies mag an einer fehlenden Gründerkultur liegen. Die Investitionshemmnisse für Start-ups sind aber zugleich groß. Innovatoren werden in Deutschland durch Regulierungen aller Art, insbesondere auf den Arbeits- und Produktmärkten abgeschreckt. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen vor allem die Risiken statt die Chancen im Blickpunkt.

Steuerlich werden Investitionen von Start-ups immer noch durch die Begünstigung der Finanzierung durch Fremdkapital und durch thesaurierte Gewinne benachteiligt. Start-ups müssen in aller Regel stärker auf die diskriminierte Beteiligungsfinanzierung zurückgreifen. Will Deutschland zukünftig die wachstumshemmenden Effekte der Demografie kompensieren, muss es innovationsfreundlicher werden. Eine Steuerreform, die Finanzierungsneutralität herstellt, wäre der erste Schritt."

Lars P. Feld ist Leiter des Walter Eucken Instituts in Freiburg und einer der Fünf Wirtschaftsweisen

Reint E. Groop, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung: Mehr Bildung!

Reint E. Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle fordert mehr Bildung.
Reint E. Gropp vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle fordert mehr Bildung.

© imago

"Die Probleme einer schrumpfenden, überalternden Gesellschaft, unter anderem für die Rentenversicherung und den Arbeitsmarkt, sind bekannt. Nur eine aktive, kontrollierte Immigrationspolitik kann diesen Prozess mittelfristig abschwächen. Diese Immigrationspolitik ist völlig unabhängig von der Frage, wie man mit Asylsuchenden umgeht. Deutschland muss sich stärker für junge, gut ausgebildete Einwanderer öffnen.

Verschiedene Aspekte müssen ineinandergreifen, um Deutschland für diese „high potentials“ attraktiver zu machen. Zentral (neben weicheren Faktoren wie das Schaffen einer „Wilkommenskultur“) sind Investitionen in Bildung, denn Bildung ist der einzige Faktor, der eine empirisch verlässliche langfristige Beziehung zu Wachstum aufweist. Die strukturelle Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen macht sie heute für internationale Topstudenten unattraktiv. Ohne Studiengebühren und ohne die Finanzierung durch Alumni fehlen den Hochschulen im internationalen Vergleich zwei der wichtigsten Pfeiler der Hochschulfinanzierung. Diese Finanzierungslücke muss durch eine deutliche Erhöhung öffentlicher Ausgaben für Hochschulen ausgeglichen werden.

Wissen, Technologie und Innovation sind zunehmend die wichtigsten Ressourcen hochentwickelter Volkswirtschaften. Schon jetzt fällt Deutschlands Produktivitätswachstum im Vergleich zu den USA und weiten Teilen Asiens zurück. Das schlägt sich im Pro-Kopf-Einkommen nieder: Relativ gesehen werden Deutsche immer ärmer. Strukturelle Reformen (im Finanzsystem, im Energiesektor, im Rentensystem, am Arbeitsmarkt, Bürokratieabbau bei Unternehmensgründungen) müssen darauf ausgerichtet sein, dass die deutsche Wirtschaft flexibler und schneller auf neue technologische Entwicklungen reagieren kann und eigene Innovationen schneller den Weg an die Märkte finden können."

Reint E. Groop ist Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)

Friederike Welter, Institut für Mittelstandsforschung: Mehr Gründermut!

Friederike Welter vom Institut für Mittelstandsforschung fordert mehr Gründermut.
Friederike Welter vom Institut für Mittelstandsforschung fordert mehr Gründermut.

© promo

"Im vergangenen Jahr ergab eine Onlinebefragung von 4300 Studenten im Auftrag von Ernst & Young, dass die Mehrheit von ihnen vor allem „Jobsicherheit“ sucht. Jeder Dritte äußerte zudem, später im Öffentlichen Dienst tätig sein zu wollen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass es dem akademischen Nachwuchs zunehmend an Risikobereitschaft fehlt.

Für eine Volkswirtschaft ist aber die stete Gestaltung von etwas Neuem und das Neugestalten von Bewährtem unerlässlich. Dies schließt auch die Bereitschaft zur Existenzgründung und zur Übernahme von bestehenden Unternehmen ein.

Im gewerblichen Bereich ist seit 2005 die Gründungsbereitschaft tendenziell rückläufig. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Unter anderem wirkt sich die gute Lage am Arbeitsmarkt aus. Gleichzeitig setzt sich der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft fort, was die erneut gestiegenen Gründungszahlen in den Freien Berufen unterstreichen. Dahinter steht die wachsende Nachfrage nach hoch spezialisierten und individualisierten Dienstleistungen. Viele dieser Gründer streben jedoch weder die Beschäftigung von Mitarbeitern noch Unternehmenswachstum an.

Eignet sich also doch nur derjenige zum Unternehmer, der auch dazu geboren ist? Sicherlich nicht. Manche unternehmerisch relevante Kompetenz, wie beispielsweise Verantwortung übernehmen oder Ziele setzen, kann und muss in frühen Jahren vermittelt werden, schließlich ist sie für eine erfolgreiche Lebensgestaltung unabdingbar. Andere Aspekte unternehmerischen Denkens wie Kreativität, die Risikoabwägung und der Mut zur Eigenständigkeit könnten noch stärker in den Schulen vermittelt werden; mit Sicherheit sehen dann zukünftige Befragungsergebnisse anders aus."

Friederike Welter ist Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn

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