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Wirtschaft: Akkordarbeit im Open-Air-Café

BERLIN . Unter Platanen und Kastanien sitzen, den Feierabend genießen und ein Bier trinken: Berlins Biergärten sind Fluchtpunkte.

BERLIN . Unter Platanen und Kastanien sitzen, den Feierabend genießen und ein Bier trinken: Berlins Biergärten sind Fluchtpunkte. Für Großstädter auf der Suche nach Grün, Mütter mit nörgelnden Kindern und Touristen, die ein Stück Bayern an der Spree entdecken wollen. Doch nicht jeder kann sich im Biergarten erholen: Frank sammelt Biergläser ein, Manuel spült sie und gibt sie an Birgit. Sie steht an den Zapfhähnen: Hefe hell oder dunkel, Faßbrause, Weizenbier. Ein 0,3-Glas ist in zwanzig Sekunden gefüllt, 0,5-Liter brauchen etwa eine halbe Minute. Die Gäste vor ihr stehen trotzdem Schlange.Für die Mitarbeiter des "Café am Neuen See" bedeutet ein Abend im Biergarten Streß im Akkord. Mehrere Hundert junge Leute arbeiten pro Jahr in Berlins größtem Biergarten im Tiergarten. Für ein paar Tage, mehrere Wochen, oder die gesamte Saison. Aber auf 630-DM-Basis wollen nur noch die wenigsten jobben: "Von einem Stundenlohn von 13 DM bleiben seit der Gesetzesänderung plötzlich nur noch neun DM übrig", sagt Roland Marie, Gesellschafter des Cafés, "das hat viele bei der ersten Lohnauszahlzung im April geärgert."Nur im ungelernten Bereich setze er 630-DM-Kräfte ein, erklärt Marie weiter. Immerhin die Hälfte aller seiner Mitarbeiter arbeiten dort - als Spüler, Abräumer, Thekenkräfte. "Früher waren das vor allem Studenten. Für die ist das aber jetzt nicht mehr attraktiv." Deshalb sind heute 80 Prozent der Ungelernten im Café am Neuen See Schüler.Arbeiten sie nicht mehr als 50 Tage pro Jahr, müssen sie auch nach der Novelle keine Steuern zahlen. Das nutzen viele aus. Zum Beispiel Julia Jeschonek. Die 20jährige arbeitete noch im vergangenen Jahr regelmäßig im Biergarten, um sich neben der Studium ein paar Mark dazu zu verdienen. "Ich könnte nicht einmal sagen, wieviele Tage ich damals insgesamt gearbeitet habe", sagt Jeschonek, "in diesem Jahr zähle ich genau mit: Jetzt habe ich 30 Tage voll und ich werde auf jeden Fall nur noch 20 Tage arbeiten. Denn ich verdiene hier ja schon nicht so wahnsinnig viel, da will ich nicht auch noch Abzüge in Kauf nehmen." Woher kommt dann aber für den Rest des Jahres das Geld fürs Studium? "Weiß ich auch noch nicht", sagt Jeschonek. Ersatz wird Roland Marie ohne Probleme finden: "Jobben im Biergarten ist Saison-Arbeit, ein typischer Ferien-Job. Die Leute sagen mir manchmal von Anfang an: Ich arbeite nur vier Wochen lang, dann hab ich das Geld für meinen Urlaub zusammen." So kommen fast täglich junge Leute zu ihm, um nach einer kurzfristigen Anstellung zu fragen."Erst im nächsten Jahr werden wir die Auswirkung des 630-DM-Gesetzes spüren", schätzt Marie. Schon jetzt bewerben sich kaum noch Studenten. Und die Vermittlungen des Arbeitsamtes waren bislang wenig erfolgreich: "Für gering qualifizierte Arbeitslose ist die Arbeit hier wenig attraktiv: Nachts, immer im Streß. Und dann wenig mehr verdienen als per Arbeitslosengeld - da winken viele dankend ab." Und so konnte Marie in den fünf Jahren, in denen das Café mittlerweile besteht, noch nie eine vom Arbeitsamt geschickte Person einstellen.Diese Probleme kennen auch andere Biergärten-Besitzer. Deshalb sind Schüler und Studenten bislang das Rückgrat der Branche. Über die 630-DM-Regelung arbeiten in Berlin aber nur noch die wenigsten. Der "Prater" in Prenzlauer Berg etwa hat Anstellungen zu 630-DM-Bedingungen schlichtweg abgeschafft. Auch, weil die Buchhaltung durch die Änderung immer komplizierter wurde.Doch vor allem die Mitarbeiter der Berliner Open-Air-Kneipen dürften immer weniger Lust auf einen 630-DM-Job haben. Bei einem Bier gestehen sie schon heute, an "Alternativen" zu denken. Von den 630 DM verbleiben nämlich nach allen Abzügen nur noch rund 500 DM.Und so wird mit der Sozialversicherungspflicht für die 630-DM-Jobs wohl auch die Schwarzbeit - ohnehin weit verbreitet in der Gastronomie - immer attraktiver. In einem Kreuzberger Biergarten etwa verdienen die Abräumer und Thekenkräfte 15 DM die Stunde - schwarz. "Das war vor der Gesetzesänderung auch schon so, aber jetzt lohnt es sich richtig", sagt eine Mitarbeiterin. "Mit Trinkgeldern komme ich an manchen Abenden auf 20 DM pro Stunde - keine Abzüge, einfach bar ausgezahlt. Da macht Arbeiten Spaß."

JENNY NIEDERSTADT

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