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Wirtschaft: Alice Zadek

Geb. 1921

Von David Ensikat

Ob sie denn meschugge sei, fragten die anderen Emigranten. Tief religiös ist sie nie gewesen, ihre Eltern waren es ja auch nicht. Dass sie nach den standesamtlichen Eintragungen „mosaischen Glaubens“ war, lag einzig an der Meinung ihres Großvaters mütterlicherseits. Der war zwar Christ und deutschnational, aber dass beim Kind die Religion des Vaters einzutragen sei – das gehöre sich nun einmal so. Auch wenn der Vater Jude sei.

Also wurde die Tochter Jüdin, also bekam sie, als sie 17 war, einen neuen Ausweis und einen neuen Namen. Auf dem Ausweis stand ein großes „J“, ihr neuer Name war „Alice Sara“. Damit sich kein Volksgenosse vom blondblauäugigen Äußeren der jungen Hochgewachsenen täuschen ließe.

In dieses Äußere und in den Rest sowieso hatte sich Gerhard Zadek früh verliebt. Er war der Sohn einer befreundeten Familie, bei denen war sie zu Besuch, und er bot sofort an, ihr das Schachspiel beizubringen. Auf der jüdischen Mittelschule in der Großen Hamburger Straße ging sie dann in eine Mädchen-, er in eine Jungenklasse; auf dem Schulhof zeigte er sie seinen Freunden. Schön war sie, nur ihre kaputten, viel zu großen Schuhe waren ihm ein wenig peinlich.

Es gab noch einen jungen Mann in diesen frühen Jahren, der spielte eine große Rolle in Alices Leben. Herbert Baum hieß er, getroffen hat sie ihn nie. Herbert Baum leitete eine jüdische Widerstandsgruppe, streng konspirativ. Durch Gerhard ist sie da hineingeraten. Die „jüdische Frage“ sei nicht zu lösen, wenn man nicht die „Klassenfrage“ löse, das war Herbert Baums Meinung, also bald auch die von Gerhard und Alice. Nun mussten nur noch all die anderen Juden überzeugt werden, die erst mal einen Staat in Palästina wollten.

Gegen die Nazis konnten die mutigen Leute nicht viel ausrichten: Mal ein paar Briefe transportieren, Papier für Flugblätter besorgen, mal ein „UN“ durchstreichen – was blieb war der Spruch im „Stürmer“-Schaukasten „DIE JUDEN SIND UNSER GLÜCK“.

Es war genug, um sagen zu können: Wir haben etwas getan! Wir Juden! Die Juden nur als Opfer darzustellen, das reicht nicht aus!

Alice und Gerhard gelang die Flucht nach England, kurz bevor der Krieg begann. Herbert Baum blieb mit anderen jungen Widerständlern im Land. 1942 zündeten sie eine Brandbombe in einer Nazi-Propagandaausstellung, kurz darauf wurden sie gefasst und hingerichtet.

Was tut man gegen Hitler, wenn man in Manchester wohnt? Man schuftet in Fabriken, die die Front beliefern. Alice, die gelernte Schneiderin, stellte Tarnstoffe her, eine furchtbare Arbeit mit dem ölgetränkten Zeug, von der man Husten und heftigen Ausschlag bekommt.

Meschugge. Das Wort fiel immer wieder nach dem Krieg, wenn es um die Rückkehr ging. Seid ihr denn meschugge?, fragten die jüdischen Emigranten, wenn sie erfuhren, dass Alice und Gerhard Zadek zurück ins Land der Mörder wollten. Land der Mörder? Das ist doch völlig undialektisch gedacht! Den Kommunismus muss man aufbauen, gerade in Deutschland! Die beiden waren in England in die verbotene Exil-KPD eingetreten und in die FDJ auch. Ganz recht, Alice und Gerhard Zadek waren Freie Deutsche Jugendliche, noch bevor sie wieder in Deutschland waren. Von blauen Hemden und Fackelumzügen war da noch keine Rede.

Wohin in Deutschland – war das eine Frage? Natürlich nach Hause, nach Berlin! Natürlich dahin, wo das bessere Deutschland entstand! Und wenn dort gerade keine Maschinenbauer, sondern Zeitungsredakteure mit dem richtigen Standpunkt gebraucht werden, so muss man eben umlernen. So wurde Gerhard Propagandist. Und Alice, die zuerst noch als Schneiderin Arbeit fand, wurde bald Kaderleiterin.

Die Partei entschied: Auch die jüdische Religion ist Opium fürs Volk, und Alice und Gerhard erklärten folglich ihren Austritt aus der Jüdischen Gemeinde. Sehr wichtig war ihnen der Glaube an Gott tatsächlich nicht, auf keinen Fall jedoch wichtiger als jener an Partei und Fortschritt.

Dann entschied die Partei noch etwas: Es gibt gute Emigranten und nicht so gute. Die nicht so guten waren in den kapitalistischen Westen emigriert, nach England zum Beispiel. Kann man denen trauen? Man versetzt sie lieber in die Provinz.

Gerhard schickte man nach Schwerin, Alice folgte mit der ersten Tochter. Als auch die Schweriner Parteioberen befanden, dass ein England-Emigrant in der Parteipresse nicht zu verantworten sei, da fuhr Gerhard nach Berlin, ins große Haus des Zentralkomitees und fragte nach.

Die Wahrheit ist eine relative Angelegenheit, die Partei, im sicheren Wissen um die Wahrheit, änderte daher zuweilen ihre Meinung. Gerhard, so hieß es im ZK, du bist Kommunist, durch die Emigration bist du weltgewandt, du kommst jetzt wieder nach Berlin und wirst Direktor der Bremsenwerke.

Ähnlich erging es Alice: Die Partei machte die Schneiderin mit Auslandserfahrung zur Direktorin einer großen Wäscheschneiderei. Da verdiente sie anfangs weniger als eine erfahrene Büglerin, denn sie war ja auch nur Frau und außerdem Berufsanfängerin. Dafür stand in ihrem Arbeitsvertrag: „Dem Volk zu dienen, ist höchste und schönste Verpflichtung.“

Für Leute wie Alice war das keine Floskel. Es ging ja pausenlos voran, die Zukunft leuchtete. Ihrer Fabrik gab sie einen neuen Namen: „Erstes Wäschewerk Tadellos“, sie steigerte die Produktion, sie wurde Direktorin einer noch größeren Fabrik und steigerte auch da die Produktion. Inzwischen war ihre zweite Tochter auf der Welt, Alice machte den Einkauf, den Abwasch und arbeitete mehr als 50 Stunden in der Woche im Betrieb.

Sie wusste, wie es der Frau im Sozialismus geht. Als die Frau des Parteisekretärs sie um 300 Mark für einen illegalen Schwangerschaftsabbruch bat, ihr Mann dürfe davon nichts erfahren, da lieh Alice ihr das Geld. Die Sache kam heraus, und Alice musste sich vor der Bezirksparteileitung rechtfertigen. Sie zitierte August Bebel: „Die Frauen dürfen so wenig auf die Hilfe der Männer warten wie die Arbeiter auf die Hilfe der Bourgeoisie.“ Dagegen konnten die zwölf Männer von der Parteileitung nichts sagen, aber der alte Paragraf 218, der galt noch, also gab es eine Rüge.

Dennoch durfte Alice Zadek, die acht Jahre die Schule besucht und Schneiderin gelernt hatte, Anfang der Sechziger studieren. Drei Jahre Parteihochschule, drei Frauen und 20 Männer in der Seminargruppe und eine Direktorin, die sagte: „Studieren oder Kinder kriegen – nur eins geht!“

Alice hatte inzwischen drei Töchter.

Als „Gesellschaftswissenschaftlerin“ mit Diplom kam sie 1965 ins große Haus, aus dem heraus die Partei ihre Weisungen ins Land schickte. Im Zentralkomitee der SED wurde sie eine der wichtigsten Frauenfunktionärinnen des Landes. Sie wurde zur Preisgestaltung für Damenstrumpfhosen befragt, sie beantwortete Eingaben, sie argumentierte gegen das Abtreibungsverbot, sie leitete geheime Umfrageergebnisse, nach denen die Frauen im Land den größten Teil ihrer Freizeit mit Anstehen verbringen, an die Abteilung „Handel“ weiter, sie fuhr im Dienst-Trabant zu den Werksleitern und überredete sie, Frauen fürs Ingenieursstudium freizustellen.

Gerhard Zadek war inzwischen Parteisekretär und arbeitete später beim Patentamt. Alice und er – eine Funktionärsfamilie in der DDR, zwei, die recht gut sehen konnten, wie es ihrem Staat ging, und die sich ihre Staatstreue davon nicht kaputtmachen ließen. Es war ihr Land, dorthin sind sie aus England zurückgekommen, als alle sie für meschugge hielten.

Ihre drei Töchter hatten nicht diese Vergangenheit. Die waren in der DDR groß geworden – und hielten es alle drei darin nicht aus. Sie gingen in den achtziger Jahren, sie hatten sich in Männer aus dem Westen verliebt. Für Alice und ihren Mann waren das drei schwere Schläge, sie reagierten hilflos und verständnislos.

Immerhin: Sie entdeckten ihre Wurzeln wieder. Mitte der Achtziger, als die Partei nichts mehr dagegen hatte, traten sie wieder in die Jüdische Gemeinde ein, für den Aufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße spendeten sie beinahe ihr ganzes Geld.

Als die DDR und damit der große Traum der Zadeks dann in sich zusammenfiel, da besannen sich die beiden umso mehr ihrer alten Zeit. Sie schrieben Erinnerungsbücher, sie setzten sich für die Umbenennung ihrer jüdischen Schule in der Großen Hamburger Straße ein: Herbert-Baum-Schule sollte sie heißen. Und endlich konnten sie auch mit den Töchtern über alles reden, ohne Härte und mit der Einsicht, viel zu lange Irrtümer für wahr gehalten zu haben.

In den letzten Jahren verlor Alice Zadek allmählich ihr wertvollstes Gut, das Gedächtnis. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee begraben. Dort kann man Steine auf ihr Grab legen.

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