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Altersvorsorge: Die Angst vor der Rente mit 67

In diesem Jahr wird das Gesetz überprüft. Viele Arbeitnehmer hoffen, dass es geändert wird. Doch nach Auffassung von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen führt auch langfristig kein Weg an der Rente mit 67 vorbei.

Berlin - Wenn Krankenschwester Helga S. ihrer 83-jährigen Patientin beim Waschen hilft oder sie auf den Nachtstuhl hebt, beißt sie auf die Zähne. Nach über 30 Jahren in der Charité kann sich die 50-Jährige „ohne Schmerz nicht mehr normal bewegen“, erzählt sie. Der Grund: Verschleiß. Bis 67 zu arbeiten – das traut sie sich nicht zu, fühlt sie sich doch heute schon „häufig leer und ausgebrannt, im Körper und im Kopf, vor allem nach Schichtdiensten“.

Wie viele ihrer Kolleginnen erwartet sie von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), dass für Krankenschwestern eine Ausnahme von der Rente mit 67 gemacht wird. Bei der neuen Ministerin könnte sie damit auf offene Ohren stoßen. Zwar führt auch nach ihrer Auffassung langfristig kein Weg an der Rente mit 67 vorbei. Aber die Arbeitsbelastung müsse so sein, dass die Menschen eine „echte Chance haben, im Alter zu arbeiten – und die haben sie derzeit oftmals nicht“, sagt die Ministerin. Eine Revisionsklausel fordert die Regierung auf, noch in diesem Jahr über die Folgen der Rente mit 67 für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche und soziale Situation der Arbeitnehmer zu berichten.

Ein Problem ist schon heute erkennbar: das Fehlen flexibler Rentenübergänge bei besonders belasteten Berufsgruppen. Es ist sicher eine der Ursachen für die immer noch geringe Akzeptanz der Rente mit 67. Nach einer Umfrage von Infratest-Dimap vom Juni 2009 fordern 44 Prozent der Bürger die Rücknahme der Rente mit 67 und 46 Prozent eine frühere Rente für Berufsgruppen mit besonderen Belastungen.

Das durchschnittliche Renteneintrittsalter beträgt derzeit 63,2 Jahre, und nur 35 Prozent der Arbeitnehmer sind heute bis 65 im Job. Besonders belastete Berufsgruppen werfen die Flinte jedoch viel früher ins Korn: Bauarbeiter gehen im Schnitt mit 60 in den Ruhestand, nur 18 Prozent erreichen die Schallmauer 65. Dachdecker scheiden noch früher aus: im Schnitt mit 57, nur 14 Prozent turnen bis 65 auf Dächern herum. Hedwig Francois-Kettner, Pflegedirektorin an der Berliner Charité, schätzt, dass es nur zehn Prozent der Krankenschwestern in der Uniklinik bis 65 schaffen.

Politiker reagieren auf Probleme der Rente mit 67 bei besonders belasteten Berufsgruppen bisher hilflos. Der Vorschlag, Bauarbeiter von einem bestimmten Alter an als Pförtner einzusetzen, ist ebenso wirklichkeitsfremd wie der Vorschlag von Arbeitsministerin von der Leyen, Dachdecker später im Verkauf zu beschäftigen. Viele Baufirmen haben gar keine Pförtner, Dachdeckerfirmen sind häufig Familienbetriebe mit fünf, sechs Mitarbeitern. In großen Unternehmen wie der Charité gibt es dagegen Raum, auf das Älterwerden im Beruf zu reagieren. So arbeiten dort ältere Schwestern, wenn sie nach 40 Jahren Schichtdienst nicht mehr heben können, als Sitzwachen bei Schwerkranken, in der Kommunikationszentrale oder in der Abteilung „Organisation/Dokumentation“.

Eine solche altersgerechte Aufgabenänderung bei Älteren ist aber sicher nur für einen Teil der 3500 Schwestern zu organisieren. Helfen müssen entweder der Gesetzgeber oder die Tarifparteien. Doch unter den zahlreichen Modellen für eine Korrektur der Rente mit 67 gibt es bisher kein einziges, das bei den Berufsgruppen ansetzt. Der Versuch, das Problem gesetzlich zu regeln, dürfte ohnehin in einer Sackgasse enden. Eine Kategorie „besonders belastet“ – physisch oder psychisch – bringt juristisch unüberwindbare Abgrenzungsschwierigkeiten. Sollen Stahlkocher ausgenommen werden und Schweißer nicht? Krankenschwestern ja, Altenpflegerinnen nein?

Eine „Lex Dachdecker“ würde überdies ein schwerwiegendes Gerechtigkeits- und Akzeptanzproblem aufwerfen. Warum soll ein Dachdecker, der genauso viel verdient wie ein Verkäufer und entsprechende Beiträge bezahlt, früher abschlagsfrei aufhören dürfen? In einem solchen Fall würde der Dachdecker länger Rente beziehen und damit aus der Rentenkasse mehr bekommen als der Verkäufer, obwohl beide gleich viel Geld eingezahlt haben. Daraus zieht der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen den Schluss: Es sei nicht die „Aufgabe der Solidargemeinschaft und damit aller Beitragszahler, für die Sonderbelastungen einzelner Branchen geradezustehen“.

Zum selben Ergebnis kommt der sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Klaus Brandner: Weil der Gesetzgeber besonders belastende Tätigkeiten nicht definieren kann, müssen flexible Übergänge bei der Rente mit 67 „auf betrieblicher Ebene oder durch die Tarifpartner erfolgen“ – durch Altersteilzeit, Sozialkassen oder Fonds sowie zusätzliche Rentenbeiträge, um Abschläge beim Ausscheiden vor der Regelaltersgrenze zu kompensieren.

Dafür sprechen auch gewichtige sozialpolitische Gründe: Wenn die Arbeitsbedingungen in einzelnen Branchen körperlich, intellektuell oder psychisch besonders anspruchsvoll oder risikoreich sind, dann müssen die dafür verantwortlich sein, die sie verursachen: in erster Linie die Arbeitgeber. So können zum Beispiel Bergleute ab 50 eine Bergmannsrente beziehen, wenn sie 25 Jahre unter Tage gearbeitet haben, und Piloten ab 55 eine Altersübergangsversorgung.

Auch andere Branchen haben diesen Weg eingeschlagen: Aus der Sozialkasse Bau erhalten Ruheständler eine Rentenbeihilfe von durchschnittlich knapp 80 Euro pro Monat. Hinzu kommt seit 2001 – auf freiwilliger Basis – eine tarifliche Baurente. Bei einem monatlichen Beitrag von 80 Euro erhält ein Polier nach 30 Jahren eine Garantierente von immerhin 219 Euro im Monat – freilich erst mit Beginn der Altersrente ab 63. Der dritte Baustein ist ein Tarifvertrag über Altersteilzeit, der die gesetzliche Regelung leicht verbessert. Hier stockt der Arbeitgeber den Lohn auf 70 Prozent und den Rentenversicherungsbeitrag auf 90 Prozent auf. Läuft die Altersteilzeit mit 65 aus, sind die Renteneinbußen nur noch minimal: bei einem Durchschnittsverdiener 13 Euro monatlich. Für die IG Bau sind dies aber alles nur Nebenkriegsschauplätze – sie fordert weiter eine Rücknahme der Rente mit 67.

Etwas bessere Altersteilzeit-Tarifverträge zum flexiblen Übergang in die Rente gelten bisher in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst. Bei den Dachdeckern gibt es – wie der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutsches Dachdeckerhandwerkes, Ulrich Marx, einräumt – noch eine „Versorgungslücke bei älteren Arbeitnehmern“. Rentenbeihilfe aus der Dachdecker-Versorgungskasse, tarifliche Zusatzrente und eine vom Arbeitnehmer aufzustockende Entgeltumwandlung reichen selbst zusammen nicht aus. In einem neuen Tarifvertrag planen die Arbeitgeber dieser Branche und die IG Bau, Teile des 13. Monatsgehaltes für eine betriebliche Altersvorsorge zu nutzen, um Rentenausfälle zu kompensieren.

Wie das technisch gehen soll, ist freilich noch offen. Vorbild könnte der 2008 in der Chemie abgeschlossene Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ sein. Er ist ein Meilenstein in der Tarifgeschichte, der vor allem die anstrengenden Schichtdienste in der Branche kompensieren soll. Der Kern: Jeder Arbeitgeber zahlt jährlich 300 Euro in einen Fonds. Das Geld für den gleitenden Übergang in den Ruhestand kann für Langzeitkonten, Altersteilzeit, Teilrente, Berufsunfähigkeitszusatzversicherung oder die tarifliche Altersvorsorge genutzt werden. Entscheidet sich der Arbeitnehmer für die letzte Alternative, bekommt er einen tariflichen Anspruch auf 613 Euro pro Jahr für die Altersvorsorge. Für je 100 Euro, die Beschäftige zusätzlich in den Fonds zahlen, legt der Arbeitgeber noch einmal 13 Euro als besondere Chemie-Förderung drauf.

Einige Tarifpolitiker haben also bereits begonnen, Verantwortung für die alternde Gesellschaft zu übernehmen. In einem Punkt könnte der Gesetzgeber ihnen jedoch noch helfen und die Möglichkeiten für Zusatzbeiträge zur Rentenversicherung erweitern. Eine Basis dafür ist der Vorschlag der Projektgruppe „Altersgerechtes Arbeiten und zukunftssichere Rente“ der SPD-Bundestagsfraktion. Nach ihm sollen künftig zusätzliche Rentenbeiträge während des gesamten Erwerbslebens bezahlt werden können – nicht nur um Rentenabschläge zu vermeiden, sondern auch um Renten zu erhöhen.

Joachim Wagner

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