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Wirtschaft: Andreas Matthae

Geb. 1968

Von David Ensikat

Politik als Beruf. Was geschieht, wenn daneben nichts mehr zählt? Herr Matthae, Sie haben den Sprung in den Bundestag verfehlt. Das Mandat in Friedrichshain-Kreuzberg hat Ihnen der Grüne Hans-Christian Ströbele weggeschnappt. Sind Sie deprimiert?

Natürlich deprimiert mich die Niederlage. Ich hatte einfach auf Sieg gesetzt. Und ich bin überzeugt, dass ich der Kandidat war, der am besten im Wahlkreis hätte die Interessen der Bürger vertreten können.

So liest sich das in der Zeitung, wenn einer sehr, sehr knapp eine Wahl verliert, der als besonders offen gilt. Ein Politiker, der sagt, dass er deprimiert ist.

Wirklich offen, wirklich ehrlich wäre gewesen, wenn Andreas Matthae gesagt hätte: Ich bin am Boden zerstört. Ich weiß nicht mehr weiter. Meine Welt bricht gerade zusammen.

Es war alles so sicher, so folgerichtig. Andreas Matthae, 34 Jahre junger SPD-Kandidat für Friedrichshain/Kreuzberg bei der Bundestagswahl 2002, stand kurz vor seinem großen Ziel. 14 Jahre zuvor hatte er sich auf den Weg begeben in den Bundestag. Da war er der Einzige unter seinen Freunden, allesamt irgendwie links, der die Konsequenz aufbrachte, in eine Partei einzutreten. In der SPD, meinte er, könnte er etwas erreichen. Was genau das sein sollte, kann heute niemand richtig sagen. Für die Leute da sein, nah dran sein, Gerechtigkeit, diese Worte fallen. Auf jeden Fall wollte er in den Bundestag, das wusste er erstaunlich früh. Mit 29 wurde er Kreisvorsitzender, mit 32 stellvertretender Landesvorsitzender.

Nun, im Oktober 2002, sollte es endlich so weit sein. Fürs Wahlplakat stutzte Andreas Matthae sein modisches Bärtchen, zwängte sich in ein Jackett und band sich einen Schlips um. Wenn man ihm gesagt hätte, er müsse sich die Stoppelhaare etwas länger wachsen lassen, er hätte wahrscheinlich auch das getan. Er stellte sich mit Luftballons und Tapeziertisch dorthin, wo ihn die Wahlkampfstrategen hinbeorderten, er fand für Freund und Freunde kaum noch Zeit.

Manch einer meinte, der Matthae müsse gar nicht so viel tun, sein Wahlkreis sei ihm ohnehin schon sicher. Und falls es mit dem Direktmandat nichts würde, kein Problem. Er hatte auch einen sehr guten Platz auf der Landesliste.

Das Direktmandat gewann der Kriegsgegner Ströbele mit ganzen 2500 Stimmen Vorsprung. Der Listenplatz nützte Andreas Matthae nichts, da seine Partei in den anderen Bezirken so gut abschnitt, dass die Landesliste keine Rolle spielte.

War das doppeltes Pech, oder war es Fügung? Hat da ein strenger Weltenlenker die Berliner SPD betrachtet und befunden: Jener dort, dieser junge Mann, der will allein das eine, der verlässt sich ganz darauf, dass sein Wunsch, auch Weltenlenker zu sein, ihm nun erfüllt wird – nein, das soll nicht sein, nicht jetzt. Ist doch nicht gesund, so was. Politik als Beruf und nichts daneben.

Nichts daneben? Es gab doch noch das Studium. Und eine Kneipe hat Andreas Matthae auch geführt.

Das Studium. Politik und Biologie, Lehramt. Eine Pflichtveranstaltung, oft genug haben Leute gesagt: Einen Abschluss muss man haben. Aber das mit dem Abschluss ist schief gegangen. Im Frühjahr 2002 hat Andreas Matthae seine Prüfung nicht bestanden. Wer kümmert sich schon um ein trockenes Lehramtsstudium, wenn er der Politik verfallen ist?

Die Kneipe. „Sol y Sombra“ am Oranienplatz, gar keine Pflichtveranstaltung. Ein Treffpunkt sollte das sein für Politiker, für Leute wie Andreas Matthae selbst. In Kneipen macht man Politik! Da sagt man, was man denkt, da trifft man Absprachen, da schafft man Mehrheiten. Wann ist denn in einem Parlament schon mal ein Kompromiss gefunden worden?

Andreas Matthae war ein Meister der Kneipenabsprache. Kaum ein wichtiger Berliner Sozialdemokrat, mit dem er nicht beim Bier gesessen hätte. Dass er, der selbst lang genug im Kreuzberger Café Morgenland gekellnert hatte, mit einem Kompagnon eine eigene Tapasbar eröffnete, war gar nicht so erstaunlich.

Nun war Andreas Matthae einer, der die Dinge gerne selbst in der Hand hatte – wenn ich’s nicht mache, wer denn dann. Das war so in der Politik, und das war auch bei der Kneipe so. Da überließ er kaum etwas den anderen und hätte sich den ganzen Tag lang um die Kneipe kümmern müssen. Aber er kümmerte sich den ganzen Tag lang um die Wahl. Als klar war, dass die Dinge sehr schief lagen, da meinte er, mit seinem Bundestagsgehalt, demnächst, könne er die Sache wieder geradebiegen. So hing letztlich auch die Sache mit der Kneipe, wie überhaupt die Frage, ob er einmal regelmäßig Geld verdienen könnte, von seinem Wahlerfolg ab.

Weil Andreas Matthae kaum noch Zeit für seinen Freund hatte, hatte der kaum noch Verständnis für die Politik. Die Beziehung war ganz jung und steckte schon in einer tiefen Krise. Dann war die Wahl verloren, die Kneipe abgegeben und eine Menge geliehenen Geldes abgeschrieben.

Andreas Matthae zog sich zurück, er meldete sich bei niemandem. War alles verloren? Ging nichts mehr? Blieb nur der eine, der ultimative Ausweg?

Er war ihm jedenfalls sehr nahe.

Es dauerte einige Wochen und einige Überlegungen – sollte man nicht doch etwas ganz anderes machen? – bis Andreas Matthae wieder da war. Mitten in der Berliner SPD. Da, wo man ihn brauchte. Wo viele ihn sehr mochten.

Er war ja nicht nur das Kommunikationstalent, der Mann, der auf die Leute zuging, immer gut gelaunt, der mit Hinz und Kunz geredet hatte und wusste, wie Hinz und Kunz so ticken. Andreas Matthae war auch einer, der Aufgaben übernahm, die als undankbar und lästig gelten. Er war Vorsitzender der Antragskommission, ein Job im Hintergrund, unbezahlt, irrsinnig aufwändig und sehr wichtig. Die Antragskommission ist dafür zuständig, das Machbare und das Wünschenswerte in der Partei in eine Balance zu bringen, damit die Partei nicht am Widerspruch zerbricht. Andreas Matthae war für diese Unmöglichkeit wie geschaffen. Er kannte ja alle Beteiligten, jene, die das Gute, doch Unmögliche forderten und jene, die das Schlechte, aber Notwendige machten, er hatte mit allen mal ein Bier getrunken.

Am Abend des 8. April 2004 schickte er an seine Mutter eine SMS. Er habe versagt, schrieb Andreas Matthae darin, und einiges mehr, das nach einer neuen, schweren Krise klang. Er hatte sich, da der Posten des Berliner Parteivorsitzenden neu zu besetzen war, darauf Hoffnungen gemacht, wenn auch nicht allzu berechtigte. Nun sollte ein anderer Vorsitzender werden, und es brach noch einmal eine Welt zusammen. Die Eltern, zu denen er in letzter Zeit kaum noch Kontakt hatte, fuhren sofort zu ihm und trafen ihn noch auf der Straße. Ach was, es sei gar nichts, sie sollten wieder nach Hause fahren, er komme schon klar.

Andreas Matthae wurde im Juni zum Geschäftsführer der Berlin-SPD gewählt, eigentlich kein schlechter Posten – und endlich einer, der bezahlt wurde. Bisher hatte der Jung-Politiker von der Unterstützung seiner Eltern und von Jobs als Kellner und als Erzieher im Kinderladen gelebt, jetzt hatte er zum ersten Mal ein geregeltes und gar nicht so schlechtes Einkommen.

Seit einem Jahr hatte er auch wieder eine neue Kneipe, eine, in der sich die Politiker trafen, diesmal sogar welche aus dem Bundestag.

Im Juni hat sein Freund ihn endgültig verlassen. Da sagte er zu Freunden: Lasst mal, damit komme ich zurecht.

Im Juli erfuhr Andreas Matthae, eine Zeitung habe von gewissen Unregelmäßigkeiten in seiner Kneipe Wind bekommen. Die Journalisten wussten offensichtlich nichts Konkretes. Aber was würden sie herausbekommen?

Freunde aus der SPD sagen: So schlimm kann das alles nicht gewesen sein, nichts, das man nicht mit einem guten Steuerberater und ein, zwei Freunden sehr schnell aus der Welt hätte schaffen können. Andreas Matthae sah das offensichtlich anders. Vielleicht sah er auch überhaupt nichts mehr. Nur noch sein Versagen. Nur noch die Schlagzeile: Politiker zahlt keine Sozialabgaben.

Wie sollte so ein Politiker SPD-Geschäftsführer bleiben? Wie sollte er je wieder in der Politik was werden? Was überhaupt sollte er noch werden? Andreas Matthae sagte niemandem, worum es wirklich ging, er sagte, es sei alles in Ordnung, er räumte sein Büro in der SPD-Zentrale auf, meldete sich bei niemandem mehr. Am 8. August nahm er sich das Leben.

Zuletzt hatte er die Lage in seinem Wahlkreis sondiert: Für den Bundestag 2006 wollte er sich wieder aufstellen lassen. Die Chancen standen gar nicht schlecht.

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