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Wirtschaft: „Arbeiter sind besonders gefährdet“

Herr Siegrist, wie entsteht Stress? In der Medizin sprechen wir von negativem Dauerstress.

Herr Siegrist, wie entsteht Stress?

In der Medizin sprechen wir von negativem Dauerstress. Dabei geht es zum einen um Situationen, in denen etwas zu leisten ist, doch unklar bleibt, ob das Ziel erreicht wird. Aber ausgeprägte Stressreaktionen entstehen auch, wenn Herausforderungen zwar gemeistert werden, aber die Gegenleistung nicht stimmt. Unangemessene Belohnung für gute Leistung geht unter die Haut – und wird mit Ärger und Frustration beantwortet. Dabei zählen neben Geld auch Anerkennung, Aufstiegschancen und Arbeitsplatzsicherheit.

Macht der Druck wirklich krank?

Auf Dauer kann das krank machen. Depressive Erkrankungen haben weltweit zugenommen, auch bei Männern. Nach unseren Studien hat, wer unter einer solchen Gratifikationskrise – bei hoher Leistung und nicht angemessener Belohnung – leidet, ein doppelt so hohes Risiko, an Depression oder Herzinfarkt zu erkranken. Das ist erheblich, denn 20 bis 25 Prozent der Belegschaften sind von einer solchen Stressbelastung betroffen.

Sind manche stressanfälliger als andere?

In einer Gratifikationskrise gibt es drei Gründe, warum Betroffene weitermachen. Das sind die gefährdeten Gruppen. Die einen haben keine Alternative zu ihrem Job. Das könnte erklären, warum weniger qualifizierte Menschen eher betroffen sind – Arbeiter und einfache Angestellte haben ein größeres Herzinfarktrisiko als höher Qualifizierte. Andere verfolgen eine Art Strategie. Sie halten aus, weil sie mit besseren Chancen in der Zukunft rechnen. So arbeiten Akademiker anfangs oft für wenig Geld, da sie glauben, in fünf Jahren den Aufstieg zu schaffen. Zahlt sich diese Vorleistung nicht aus, wird es gefährlich. Die dritte Gruppe sind Menschen, die sich von sich aus in solche Situationen begeben, aus übersteigertem Ehrgeiz. Sie verausgaben sich über das Maß hinaus, das von ihnen gefordert wird.

Unterscheiden sich Frauen und Männer?

Es gibt Hinweise auf unterschiedliche gesundheitliche Auswirkungen. Frauen erkranken eher aufgrund der Neigung, sich zu verausgaben. Männer sind gefährdeter, wenn ihr sozialer Status bedroht ist, etwa weil sie nicht aufsteigen. Frauen kompensieren viel durch andere Quellen der Anerkennung, beispielsweise durch familiäre. Dagegen ziehen Männer ihr Selbstbewusstsein oft eindimensional aus dem Beruf – und sind damit gefährdeter.

Ist der Stress bei der Arbeit gewachsen?

Tauschungerechtigkeit besteht, wenn etwas Grundsätzliches, die angemessene Gegenleistung für erbrachte Leistungen, nicht stimmt. Unsere These ist: Dieser Stress wird im Zeitalter der Globalisierung wichtiger als der herkömmliche, bei dem Belastungen am Arbeitsplatz im Zentrum stehen. Heute geht es mehr um Belastungen, die den Arbeitsvertrag betreffen. Denn durch die Globalisierung der Arbeitsmärkte werden traditionelle Sicherheiten und Belohnungen fraglicher.

Johannes Siegrist (63) ist Medizinsoziologe an der Universität Düsseldorf und erforscht die gesundheitlichen Folgen von Stress. Mit ihm sprach Juliane Schäuble.

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