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Ingrid Schmidt

© dpa

Arbeitsrecht: "Der Gesetzgeber hinkt ständig hinterher"

Der Fall der Kassiererin "Emmely", der wegen einer Bagatelle gekündigt wurde, hat bundesweit Schlagzeilen gemacht. Ingrid Schmidt, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, über den Fall und die Folgen der Wirtschaftskrise.

Frau Schmidt, seit einer guten Woche sitzt die Kassiererin Emmely, der gekündigt wurde, weil sie zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unterschlug, wieder an der Kasse. Empfinden Sie das als Niederlage?

Bitte? Wieso das denn?

Sie haben doch mehrfach die Rechtmäßigkeit von Bagatellkündigungen verteidigt.

Was ich gesagt habe, ist, dass ich kein Verständnis dafür habe, wenn Arbeitnehmer etwas mitgehen lassen, das ihnen nicht gehört, und dass auch der Diebstahl geringwertiger Sachen ein Grund für eine Kündigung sein kann. Daraus leitet sich aber nicht das Prinzip ab, dass eine Kündigung automatisch rechtens ist. Ich habe mich immer dafür ausgesprochen, dass in jedem Einzelfall überprüft werden muss, inwieweit das Vertrauen des Arbeitgebers in die Integrität des Arbeitnehmers aufgrund des Verhaltens des Arbeitnehmers wirklich verloren gegangen ist. Die Interessenabwägung im Einzelfall ist eine gesetzliche Vorgabe. Im Fall von Frau Emme war es so, dass sie 30 Jahre ohne Beanstandung gearbeitet hatte. Deshalb ist der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts im konkreten Fall zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Abmahnung ausgereicht hätte.

Nehmen Bagatellkündigungen zu?

Das kann ich so nicht bestätigen. Diese Fälle sind kein neues Phänomen. Schon 1984 wurde eine Arbeitnehmerin entlassen, weil sie ein Stück Bienenstich aus der Auslage gegessen hatte. Ich glaube, dass diese Fälle aufgrund der Wirtschaftskrise und der Diskussion über die angemessene Bezahlung von Managern derzeit einfach größere Aufmerksamkeit erfahren.

Sind viele Kündigungen wegen Nichtigkeiten wie Maultaschen oder Fischbrötchen nicht nur vorgeschobene Gründe, um unliebsame Mitarbeiter abzuservieren?

Nach deutschem Kündigungsrecht ist eine Kündigung nur darauf zu überprüfen, was der Arbeitgeber als Grund angibt. Was er dabei denkt und welche unausgesprochenen Motive er möglicherweise hat, spielt keine Rolle. Wenn sich aber herausstellt, dass ein Kündigungsgrund nur vorgeschoben ist, ist die Kündigung unwirksam.

Gibt es Strategien, wie trotzdem eine gewisse Verhältnismäßigkeit bei den Kündigungen gewährleistet werden kann?

Eine finanzielle Obergrenze für sogenannte Bagatelldelikte bringt nichts, weil die Grenze nur verschoben würde. Läge sie zum Beispiel bei fünf Euro, würden bald Fälle über 5,10 Euro verhandelt, und es käme jedes Mal die Diskussion auf, ob man jetzt wegen zehn Cent kündigen darf. Was hilft, und das hat der Zweite Senat im Fall von Frau Emme jetzt ja auch noch einmal bestätigt, ist eine Prüfung, in welchem Verhältnis das arbeitsvertragswidrige Verhalten zum vorher aufgebauten Vertrauen steht. Überwiegen die Verdienste, ist die Kündigung unwirksam, wenn es an einer Abmahnung fehlen sollte.

Sind die Arbeitsgerichte arbeitnehmerfreundlicher geworden?

Diese Tendenz wird den Arbeitsgerichten häufig unterstellt. Belege dafür gibt es nicht. Es ist allerdings so, dass die meisten Gesetze, die in unseren Zuständigkeitsbereich fallen, Arbeitnehmerschutzgesetze sind. Die Behauptung, es werde generell für die Arbeitnehmer und gegen die Arbeitgeber entschieden, ist jedoch Unsinn.

Wie kann man moralischen Fragen mit den Mitteln der Justiz gerecht werden?

Gar nicht. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Aber vor dem Problem stehen Sie doch in Fällen wie dem von Emmely.

Ich finde nicht. Nichtjuristen liegt es näher, Probleme auf einer ethischen oder moralischen Ebene zu diskutieren. Das sind aber keine Maßstäbe, nach denen ein Gericht urteilt. Da geht es nach Recht und Gesetz, also nach den rechtlichen Regeln, in die vom Gesetzgeber legitimierte ethische und moralische Prinzipien eingeflossen sind.

Oft ist es bei Ihrer Arbeit so, dass klare Gesetze fehlen. Im Arbeitskampfrecht beispielsweise fehlen juristische Grundlagen, und Urteile basieren dann hauptsächlich auf Entscheidungen von Einzelpersonen.

Also, Entscheidungen von Einzelpersonen gibt es schon mal gar nicht. Ein Senat des Bundesarbeitsgerichts hat fünf Mitglieder, und für die Entscheidung eines Falls muss sich eine Mehrheit finden. Richtig ist aber, dass das Arbeitsrecht wegen der Dynamik von Wirtschaftsprozessen oft lückenhaft ist oder viele unbestimmte Rechtsbegriffe gebraucht werden. Gesetzliche Lücken und weite Rechtsbegriffe müssen von Richtern mit Inhalten gefüllt werden. Aber auch da kann nicht einfach nach Gusto geurteilt werden. Gefragt ist rechtsmethodische Disziplin.

Das Ergebnis hängt trotzdem stark von der Persönlichkeit des Richters ab.

Sicherlich hängt die Beurteilung rechtlicher Fragen auch von der Persönlichkeit ab. Wertungsspielräume gibt es aber nicht nur bei Richtern. Die Arbeitsrechtswissenschaft gibt wie jede Rechtswissenschaft Wertungsspielräume vor. Hinzu kommt, dass sich Urteile dem öffentlichen Diskurs stellen müssen. Das diszipliniert erheblich.

Muss man sich viel Kritik gefallen lassen?

Ja, definitiv.

Gewöhnt man sich daran?

Das gehört zu unserem Beruf. Man wird ja nicht als Person kritisiert. Kritik erfährt das berufliche Produkt.

Wenn ein Richter etwas für rechtens erklärt, was die Mehrheit für unmoralisch hält, dann steht er doch selbst in der Kritik.

Damit muss man umgehen können. In einer offenen Gesellschaft können auch Richter nicht kritikfrei agieren. Wer nicht bereit ist, das zu akzeptieren, hat den falschen Beruf gewählt.

Wie empfinden Sie die Ihnen gegebene Macht, mit Urteilen nicht nur Prozesse, sondern auch Schicksale zu beeinflussen?

Häufig als Bürde. Für Richter gibt es eigentlich nichts Schöneres als klare und strukturierte Gesetze, die die Last der Entscheidungsfindung auf ein Minimum reduzieren. Wenn das Arbeitskampfrecht in dieser Weise kodifiziert wäre, hätte ich ein paar schlaflose Nächte weniger.

Das geplante Arbeitnehmerdatenschutzgesetz müssten Sie dann klar befürworten.

Das ist ein Paradebeispiel für ein Regelungsdefizit. Beim Datenschutz dachte man ursprünglich, es gehe dabei um den Schutz des Bürgers vor staatlichen Eingriffen. Mittlerweile, begünstigt durch technische Entwicklungen, geht es auch um Informationsbedürfnisse des Arbeitgebers und den Schutz der Persönlichkeit der Arbeitnehmer. Dass es jetzt einen Referentenentwurf aus dem Innenministerium gibt, der festschreiben will, wie es um den Einsatz von Videoüberwachung und Ortungssystemen steht und welche Daten im Zuge der E-Mail-Kommunikation und der Internet-Nutzung sowie der Begründung und Durchführung eines Arbeitsverhältnisses erhoben werden dürfen, begrüße ich.

Klarere Gesetze würden Ihnen das Leben einfacher machen, sagen Sie. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen der Gesetzgeber seine Aufgabe überstülpt?

Das Arbeitsrecht war schon immer ein Feld, das stark polarisiert, weil die Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erheblich sind. Das könnte auch ein Grund sein, warum die Beschäftigung damit nicht unbedingt ganz oben auf der politischen Agenda steht.

Da will sich also jemand aus der Verantwortung ziehen?

Manchmal ist das sicher so. Aber man muss auch sehen, dass sich die Situation der Wirtschaft von heute auf morgen ändert. Das provoziert ein ständig wechselndes Regelungsbedürfnis. Der Gesetzgeber hinkt deswegen permanent hinterher.

Hat sich Ihr Arbeitsaufkommen durch die Krise eigentlich deutlich erhöht?

Zwischen 2008 und 2009, als der wirtschaftliche Einbruch kam, erhöhten sich die Eingänge bei manchen Arbeitsgerichten um 12 bis zu 25 Prozent. Merkwürdigerweise ging die Zahl der Berufungen an die Landesarbeitsgerichte aber zurück. In diesem Jahr ist es genau umgekehrt. Die Eingangszahlen sind annähernd stabil, dafür steigt die Zahl der Berufungen.

Bedeutet das, dass die Zeiten härter werden und die Leute stärker kämpfen?

Das wäre eine Erklärung. Allerdings fällt auf, dass in Krisenzeiten eher die Entgeltstreitigkeiten zunehmen und nicht unbedingt die Kündigungsprozesse. Es wird also häufiger um die Vergütung gestritten. Das kann auch mit der Kurzarbeit zu tun haben. Sie hat auf der einen Seite zweifellos viele Arbeitsplätze gerettet, den Arbeitnehmern auf der anderen Seite aber auch erhebliche Lohnkürzungen beschert.

Welche Rolle spielen prekäre Beschäftigungen vor Gericht?

Damit beschäftigen wir uns, etwa wenn ein Arbeitnehmer Lohn einklagt und es darum geht, ob die Lohnabsprachen sittenwidrig sind. Das wirft allerdings komplexe Fragen auf. Zwar gilt die Regel, dass Lohn sittenwidrig ist, wenn ein Arbeitnehmer weniger als zwei Drittel des üblichen Tariflohns erhält. Aber auch da gibt es Probleme, weil in Deutschland keine einheitliche Lohnstruktur existiert. Beträgt der Stundenlohn im Bewachungsgewerbe etwa 5,50 Euro, sind zwei Drittel davon nicht mal vier Euro. Da stellt sich doch die Frage, ob das nicht sittenwidrig ist.

Verkompliziert das Ende der Tarifeinheit das Problem der Zersplitterung noch?

Tarifpluralität, also das Nebeneinander mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb, ist doch schon längst gelebte Realität. Und das aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen verlieren die großen Gewerkschaften Mitglieder, weil sich Arbeitnehmer kleinere Berufsgruppengewerkschaften suchen, die ihren spezifischen Bedürfnissen eher entsprechen. Zum anderen fusionieren Betriebe, was ebenfalls zu einem Nebeneinander mehrerer Tarifverträge führen kann. Und wie die geringe Zahl der gerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit der Geltung unterschiedlicher Tarifverträge in einem Betrieb zeigt, kommen die meisten Betriebe mit dieser Tarifvielfalt ganz gut klar.

Das Gespräch führte Moritz Honert

DIE RICHTERIN

Ingrid Schmidt (54) ist seit 2005 Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts und die erste Frau in diesem Amt. Dem Gericht gehört sie als Richterin bereits seit 1994 an. In den Jahren davor hatte die Juristin als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht gearbeitet und war zwischenzeitlich auch als Richterin in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit tätig. Die ranghöchste deutsche Arbeitsrichterin stammt aus Hessen und hat zwei Kinder. In ihrer Freizeit liest sie gerne Krimis und geht joggen.

DAS GERICHT

Das Bundesarbeitsgericht ist einer der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes und die höchste Instanz in allen Fragen des Arbeits-, Tarif- und Betriebsverfassungsrechts. Seit 1999 hat es seinen Sitz in Erfurt, zuvor tagte es in Kassel. Vor knapp vier Wochen hob es die Kündigung der Berliner Kassiererin Emmely auf, die zwei gefundene Pfandbons eingelöst hatte – inzwischen hat sie ihre Arbeit bei Kaiser’s wieder aufgenommen. Tsp

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