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Wirtschaft: Barbara Antkowiak

Geb. 1933

Die Neunziger waren ihr „grausiges Jahrzehnt“. Sie war Übersetzerin. Przepustowosc. Ein Wort, das ihr tagelang den Schlaf raubte. Es stand in einer frühen Erzählung des polnischen Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem, aber in keinem Wörterbuch. In der Erzählung ist von Computern die Rede. Computer sollte sie damals, in der DDR mit „Rechenautomat“ übersetzen. Aber przepustowosc? Barbara Antkowiak hätte jemanden fragen können, der sich mit Computern auskannte, aber sie kramte lieber lange in ihrem riesigen Sprachgedächtnis, befragte Bücher, griff bald zu einem richtig schwierigen von Georg Klaus, dem Sprachtheoretiker und Kybernetiker. Und, ach! Bei Klaus fand sich das Wort, das ihr gefehlt hatte: przepustowosc – Speicherkapazität.

Diese Geschichte erzählte sie vor anderthalb Jahren, in ihrer Dankesrede für den Förderpreis zur Europäischen Verständigung. Sie nannte das Übersetzen von Literatur, das ihr Leben bis zur Neige füllte, eine „handwerkliche Tätigkeit in einer Ich-AG“. Ihr übliches Understatement überschritt die Schwelle zum Sarkasmus. In diesem Satz verbargen sich ihre bitteren Erfahrungen in den 90er Jahren, die sie ihr „grausiges Jahrzehnt“ nannte.

Barbara Antkowiak übersetzte und lektorierte Literatur aus dem Polnischen, Tschechischen, Bulgarischen und vor allem aus dem Serbokroatischen. Sogar albanische und mongolische Texte hat sie übersetzt und herausgebracht. Sie war gewissermaßen ein Genie der Gedankenübertragung. Nur sie durfte die Bücher von Aleksandar Tišma ins Deutsche übersetzen. Tagsüber arbeitete sie und abends und an Wochenenden und an Feiertagen und an Geburtstagen und an Heiligabend. Wenn man sie anrief, kroch ein mattes „Ja“ durch den Hörer. Es war schwer, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Und, wann sehen wir uns mal wieder?“ – „Ich weiß nicht.“

Der 1. September 1956 ist ein wichtiger Tag. Er markiert Barbaras Aufnahme in den Verlag „Volk und Welt“ in Berlin, die wichtigste Instanz für ausländische Literatur in der DDR. Sie wird Lektorin, stellvertretende Abteilungsleiterin, sie wird unverzichtbar. Einfach hat es die Kaderleitung (unzureichende Übersetzung: Personalabteilung) nicht mit ihr. Barbara weigert sich, den Vorschriften gemäß um acht Uhr morgens zur Arbeit zu erscheinen. Es werden Kadergespräche geführt, Vermerke gemacht, aber Barbara besteht darauf, erst um neun zu kommen. Irgendwann gibt die Kaderabteilung auf.

Nach 34 Jahren ist aber doch Schluss. Es ist das Jahr 1990, Lektorin Antkowiak wird gekündigt, der Verlag verkauft. Barbara ist 57 und ihres nährenden und sinnstiftenden Biotops beraubt. „Vorruhestand“ – ein Wort, das sie noch nie gehört hat. Dann versinkt auch noch ihr geliebtes Jugoslawien im Bürgerkrieg.

Bald kommen die Flüchtlinge. Barbara gründet mit anderen Frauen den „Südosteuropa Kultur-Verein“. Hier kann sie wieder übersetzen, direkt von Mensch zu Mensch. Sie überwindet ein wenig ihre Scheu, auf Fremde zuzugehen. Es wird diskutiert, warum im ehemaligen Jugoslawien plötzlich so viele Trennlinien gezogen werden, sogar durch die Sprache hindurch. Barbara weigert sich, ihr Serbokroatisch in Kroatisch und Serbisch und Bosnisch aufzuteilen. Fortan sagt sie einfach „naski“, frei übersetzt: unsere Sprache.

Barbara wohnt im 9. Stock, Plattenbau. Dort lebt sich’s ruhig und ein wenig erhoben aus dieser Welt. Das erleichtert das Hinabgleiten in die Literatur. Manchmal sonnt sie sich auch durchs geöffnete Küchenfenster. Sie raucht viel, immer Marlboro, aber nicht die vom Polenmarkt, die schmecken nicht. Einmal die Woche fährt sie zum Ku’damm und kauft einen Stapel Zeitungen aus Sarajewo, Belgrad und Zagreb. Die gibt sie dann an Freunde weiter, aber erst, nachdem sie alle Kreuzworträtsel vollständig gelöst hat. Das trainiert den Wortschatz.

Sie hat nicht immer allein gelebt. 1962 heiratete sie Alfred Antkowiak, einen Schriftsteller und Übersetzer. Er brachte zwei Töchter mit in die Ehe. Gemeinsam setzten sie keine Kinder, aber viele Bücher in die Welt, Anthologien, Kriminal- und Liebesgeschichten. Ein Foto zeigt das Paar mit Auto. Die Münder sind verschlossen, die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen. Es könnte ein Bild aus einem Agententhriller sein, nur der Wartburg fällt ein wenig aus der Rolle. „Barbara ist mein zweites Ich“, schreibt Alfred einen Monat vor seinem Tod. Er stirbt 1976. Barbara spricht nicht über ihre Gefühle. Das hat sie noch nie getan.

Man sollte jedoch nicht vorschnell schließen, Barbara sei ein einsamer, unglücklicher Mensch gewesen. Ihr Glücklichsein, wenn es denn auftrat, drang nur selten nach außen. Und ihr Einsamsein war eine Voraussetzung, das zu tun, was ihr am Wichtigsten war. Wenn eine Freundin es schaffte, sie aus ihrem Elfenbeinturm in ein Restaurant zu entführen, aß und trank sie mit Hingabe.

Auf ihren Körper achtete sie bei alledem am wenigsten. Er stützte ihren Kopf, aber das rechtfertigte keine weitere Aufmerksamkeit. Es war ihr lästig, wenn wieder mal ein Knochen brach und sie zwang, die Arbeit zu unterbrechen und das Krankenhaus aufzusuchen. Sie litt an Osteoporose. Davon erzählte sie natürlich niemandem. Reduziert auf das Funktionieren des Organismus ist der Mensch als Wesen völlig uninteressant. Nicht umsonst blendet die Literatur das Genre der medizinischen Leidensgeschichte weitgehend aus. Barbara Antkowiak starb an einer Lungenembolie.

Als ihre Stieftochter die Wohnung im 9. Stock öffnete, sah es so aus wie immer. Die elektronische Schreibmaschine, daneben aufgeschlagene Bücher und Zeitschriften. In einer blauen Mappe lagen die Manuskriptseiten ihrer letzten Arbeit, der Übersetzung von Dubravka Ugresic’ „Ministerium der Schmerzen“.

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