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Berliner Energiewirtschaft: Höchstspannung im Tunnel

Deutschlands größte Stadt braucht auch die größten Leitungen. Sie führen Strom mit 380.000 Volt tief unter Berlin hindurch. Was Berlin erleuchtet - Teil 4 der Tagesspiegel-Serie Berlindustrie 2011.

Berlin ist eine hungrige Stadt: 3,5 Millionen Menschen wollen immer und überall Strom. Und da sind noch die Fabriken, die teils rund um die Uhr Güter produzieren für die ganze Welt. Alle wollen Energie möglichst billig aber trotzdem immer verfügbar. Wie der Strom in die Stadt kommt und verteilt wird, sieht man fast nicht: 97 Prozent aller Kabel sind unter der Erde versteckt. Weil niemand unter einer Hochspannungsleitung leben will – und weil sie geschützt werden müssen. Hier eine kleine Reise mit dem Strom.

Marzahn, Beilsteiner Straße, nahe der Allee der Kosmonauten: In einem unscheinbaren Plattenbau muss man durch verwinkelte Flure wandeln, um eine Sicherheitsschleuse zu erreichen. Dahinter befindet sich ein Saal, der an die Kommandobrücke eines Raumschiffes erinnert. Fünf Menschen sitzen still an meterlangen hellgrauen Tischen mit bis zu sieben Monitoren davor. Sie haben dabei auch eine Riesentafel im Blick, auf der das Höchstspannungsnetz für ganz Ostdeutschland und Teile Norddeutschlands schematisch dargestellt ist. Rund 100 Digitalanzeigen auf der Karte verteilt sagen den Experten, wo derzeit wie viel Strom in diese Stromautobahnen mit 380 000 Volt (380 KV) Spannung eingespeist wird: aus den Kohlekraftwerken in Berlin und der Lausitz, den Pumpspeicherwerken in Thüringen, den Windparks überall. Neben den angeschlossenen norddeutschen Kernkraftwerken steht nicht erst seit dem Fukushima-GAU nur „0“. Die Experten kontrollieren die Ströme, pendeln sie aus, damit nirgends das Licht ausgeht.

Schichtleiter Detlef Goymann trägt einen grauen Rauschebart und lehnt sich in den Stuhl zurück. Der 56-Jährige hat vor 30 Jahren in der DDR als Netzingenieur an dieser Stelle angefangen: bei der staatseigenen Hauptlastverteilung (HLV). Heute sitzt er immer noch in Marzahn, bekommt sein Geld von einem Unternehmen namens 50Hertz Transmission, das einem belgisch-australischen Konsortium gehört. Sein Arbeitsplatz heißt nun „Transmission Control Center“. Ist sein Job komplizierter als früher? „Ja“, sagt er. „Damals haben wir hier in der Warte entschieden, ob ein Kraftwerksblock in Jänschwalde mehr, oder weniger produzieren soll. Jetzt entscheidet fast allein der Markt, wer wann Strom ins Netz schicken darf.“

Strombörse EEX, Energiewirtschaftsgesetz, Erneuerbare Energien Gesetz, Entflechtungsgesetz: Tausend neue Paragrafen, die den Strommarkt frei machen sollen, liberalisieren. Aber sie machen es auch kompliziert: Heute muss Goymann Preischarts und Wetterkurven studieren. Er kontrolliert in seinem Sektor 18 Prozent der deutschen Stromautobahnen, über die aber 41 Prozent des fast unberechenbaren Windstroms der Republik fließen, da im Osten so viele Windräder stehen. Bisher hat er fast immer gewusst, wann er wie viel Strom wohin leiten muss, um das Gleichgewicht im Netz zu halten. Auf seinem Tisch steht eine schlichte Glaskugel mit Wasser und Glitzerflöckchen gefüllt. Er schüttelt sie kurz. „Unser Betriebsorakel“, schmunzelt er.

Friedrichshain, Eldenaer Straße. Hier fließt Goymanns starker Strom mitten durch die Stadt: Unweit der geräumten Häuser in der Liebigstraße steht eines der größten Umspannwerke Berlins. Die Fassade ähnelt denen der vielen Reihenhäuser, die dort in den letzten zwei Jahren gebaut worden sind. Auf dem Gelände führt eine kleine Treppe hinab zu einer dicken Stahltür. Dahinter liegt ein Betonschacht, so breit, dass man zwei dieser Townhouses darin versenken könnte. Über eine Gittertreppe geht es 24 Meter in die Tiefe.

Am Boden riecht es erdig feucht. Es gibt einen kleinen Raum mit Stuhl, Tisch und zwei Bildschirmen für die Überwachungskameras. Die zeigen seit elf Jahren nur ein Bild: den Blick in den Tunnel. Der Eingang liegt wenige Schritte weiter. In die eine Richtung geht es über 5,2 Kilometer leicht ansteigend hoch bis nach Marzahn. In die andere abwärts 6,3 Kilometer zum Umspannwerk Mitte. Links und rechts an der Tunnelwand sind je drei – mehr als oberschenkeldicke – Kabel festgeschraubt. Durch sie fließen jene 380 000 Volt, die Ingenieur Goymann durch die Stadt leitet. An der Tunneldecke sind Schienen befestigt, an denen eine kleine Bahn hängt, mit der Wartungstechniker hindurchfahren können.

2000 wurde der letzte Abschnitt dieses befahrbaren „380-KV-Tunnels“ fertig und war damals weltweit einzigartig, eine technische Meisterleitung. Die meisten Versorger der Welt haben es sich einfacher gemacht und einen Ring aus Höchstspannungsleitungen auf Masten um Städte herum gezogen, um von dort kleinere Leitungen mit weniger Spannung in die Zentren zu führen. Das aber war in den 1970er Jahren für die damals West-Berliner Bewag keine Option. Ihre Stadt war politisch wie technisch eine Insel.

Das Umspannwerk Mitte, nahe des Kulturforums in Tiergarten, könnte Stromautobahnwächter Goymann theoretisch unterirdisch zu Fuß erreichen. Hier zweigt Berlins örtlicher Stromnetzbetreiber Vattenfall eine Leitung mit nur noch 110 000 Volt ab zu seiner „Energiezentrale“ Potsdamer Platz in der Stresemannstraße. Im Innern des fast fensterlosen Baus stehen drei mit Panzertüren gesicherte, Lkw-große, 57-Tonnen-Transformatoren. Sie wandeln die Hochspannung surrend auf 10 000 Volt Mittelspannung, um diesen Strom dann weiter rund um den Potsdamer Platz zu verteilen: Angeschlossen sind mehr als 71 Kilometer Kabel, 3800 Haushalts- und knapp 1500 Gewerbekunden. Dazu 15 VIP-Kunden mit doppelt abgesicherten Leitungen wie Bundesrat, Bundestag und Kanzleramt.

In Berlins Netz hängt also irgendwie alles mit allem zusammen: Die Kristallkugel auf Schichtleiter Goymanns Tisch in Marzahn sogar ziemlich direkt mit der Schreibtischlampe von Angela Merkel.

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