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Berliner Manufakturen: Handarbeit "made in Germany"

Manufakturen sind im Trend, gerade in Berlin. Die Firma Wünsch & Co fertigt Kleinlederwaren in Handarbeit. Und eine Initiative will ein Gütesiegel für deutsche Handarbeit international etablieren.

Von Maris Hubschmid

Die Geschichte der Familie Wünsch liegt in 54 Schubladen. Sie wird gut behütet. Nur wenn Hartmut Wünsch den dicken Schlüssel im Schloss des Eichenholzschranks dreht, offenbart sie sich. Unten rechts liegen, von einer Staubschicht überzogen, die Zigarrentaschen, mit denen Karl Wünsch 1890 seinen Lederwarenbetrieb in Berlin begründete. Ein paar Schubladen darüber findet sich ein gerademal fünf mal fünf Zentimeter großes – kleines – Hirschlederetui: „Für Briefmarken“, sagt Hartmut Wünsch. „Das braucht heute keiner mehr.“ In die goldenen zwanziger Jahre ging die Firma mit Otto Wünsch an der Spitze. Hinterlassen hat er Variationen eleganter Geldbörsen. Ottos Söhne bauten das Unternehmen zu einem 100-Mann-Betrieb aus. Dann kam der zweite Weltkrieg, an dessen Ende das Lederwarenviertel um die Kreuzberger Ritterstraße in Trümmern lag. Es war die Witwe Ingeborg Wünsch, die die Firma wieder aufbaute. „Meine Mutter.“

Aus dem oberen linken Drittel des Schranks zieht Hartmut Wünsch ein rostbraunes Muster aus feinstem Lammnappa – eine Schmuckschatulle. Seine Spezialität sind Schreibmappen und Stiftetuis. An seiner Seite steht heute sein 31-jähriger Sohn Andreas. Der präsentiert nicht ohne Stolz eine Aktentasche mit Hightech-Verschluss und zugehöriger iPhone-Hülle.

Historisch stellten Manufakturen (von lateinisch „Hand“ und „machen“) das Bindeglied zwischen Handwerk und Industrie dar – die Wiege des „Made in Germany“. Seit einigen Jahren erlebt der Begriff eine Renaissance. Er wird verbunden mit Qualität und Exklusivität meist hochpreisiger Luxusgüter. Mercedes-Benz unterhält die Maybach-Manufaktur, Volkswagen baut den Phaeton in der Gläsernen Manufaktur. Das Einzelhandelsunternehmen Manufactum, das mit dem Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ wirbt, hat deutschlandweit viele Fans. Hersteller von Uhren, Schmuck und Schokolade werben mit „Manufaktur“ im Namen. Dabei sind etliche, die sich zwar so nennen, aber nicht mehr in Handarbeit herstellen. Rechtlich geschützt ist die Bezeichnung nicht. Immerhin 1000 Betriebe in Deutschland können aber aufgrund ihrer Produktionspraktiken mit gutem Recht als Manufaktur bezeichnet werden. Ihr Gesamtumsatz wird auf mehr als zwei Milliarden Euro geschätzt.

Um die Aufmerksamkeit für wirklich handgefertigte deutsche Produkte zu erhöhen, hat sich 2010 die „Initiative Deutsche Manufakturen“ formiert. Sie will das Siegel „handmade in Germany“ international etablieren. „Es gibt ein Bedürfnis der Kunden nach Sicherheit, Orientierung und Identität überall auf der Welt“, sagt Frank Müller, stellvertretender Vorsitzender, der in seiner Laufbahn Marken wie Glashütte Original und die Schweizer Swatch Group führte. Im Verlag „Deutsche Standards“ ist in Zusammenarbeit mit dem Verbund nun der Bildband „Handgemacht“ erschienen, der 75 Manufakturen vorstellt. Weil Konsum mehr sei als bloßer Verbrauch, heißt es im Vorwort.

In Berlin gibt es zahlreiche Manufakturen, doch die Fachgeschäfte sterben aus

Bis an die Decke stapeln sich bei Wünsch & Co die Rollen feinsten Leders. Die Auswahl ist über die Jahre immer größer geworden. Zehn Sorten in bis zu 30 Farben sind vorrätig. Das Lammnappa kommt aus Frankreich, Schlange aus Italien. Hartmut Wünschs liebstes Leder ist Elchleder aus Finnland. Andreas Wünsch bevorzugt Straußenleder aus Südafrika. Die Gerber, bei denen Wünschs einkaufen, sitzen aber überwiegend in Deutschland. Ein Kriterium für die Aufnahme in die Initiative ist, dass die Waren zu großen Teilen in Deutschland produziert werden.

Im Werkraum surren leise die Nähmaschinen. Es ist das einzige maschinelle Geräusch. Erst wird das Leder zugeschnitten oder gestanzt, dann entfernen die gelernten Täschner einzelne Schichten, um es für bestimmte Zwecke biegsamer zu machen. Für eine Schreibmappe brauchen sie mehrere Arbeitsstunden.

Neun der 75 im Buch vorgestellten Unternehmen sind in Berlin zu Hause. Die Königliche Porzellan-Manufaktur ist darunter, der Klavierbauer Bechstein und die Bildgießerei Hermann Noack, die den Berlinale-Bären fertigt. Im brandenburgischen Werder, wenige Kilometer vor den Toren der Stadt, stellt die Neue Ziegelmanufaktur Glindow handgestrichene Ziegel her. Tatsächlich existieren in Berlin und Umgebung noch weit mehr Manufakturen, etwa 40 „echte“. Der Verbund zählt allerdings auch nur Betriebe ab zehn Mitarbeitern.

Inklusive derjenigen, die im Büro arbeiten, beschäftigt Hartmut Wünsch in dem Kreuzberger Hinterhaus zwölf Angestellte. Dass sein Betrieb weniger bekannt ist als andere Manufakturen, liegt auch daran, dass kein Emblem die Waren ziert. „Mir reicht es, wenn letztlich der Besitzer Freude daran hat“, sagt Hartmut Wünsch. „Ich trage auch keine Pullover mit Markenzeichen.“ Die Wünschs verkaufen ihre Waren nicht direkt. In Berlin sind ihre Stücke im KaDeWe und in der Papeterie Heinrich Künnemann in Charlottenburg erhältlich. Eine Schreibmappe kostet dann je nach Material zwischen 250 und 800 Euro.

Die meisten Kunden hat die Firma aber außerhalb Berlins. Erst kürzlich ist ein größerer Auftrag aus Japan gekommen. „Internationale Zielmärkte“ gehen bei der Aufnahmeprüfung der Initiative positiv in die Bewertung ein. Einmal im Jahr fährt Hartmut Wünsch mit seinem Sohn zur Paperworld Messe nach Frankfurt, um seine Waren auszustellen. Preisgekrönt ist sein Stiftekoffer, in dem 24 Stifte Platz haben. Verkaufen tut er davon nur wenige. „Ist eben was für Sammler“, sagt er. Insgesamt umfasst Wünschs Palette 200 Kleinlederwaren. Einzeletuis und Schreibtischauflagen in Schwarz und Braun gehen am besten. Auf Wunsch machen die Wünschs auch Sonderanfertigungen. Individualität ist schließlich eine Geschäftsgrundlage.

Umso mehr sorgt es die Manufakturen, dass immer mehr Fachgeschäfte aussterben. „Die Globalität fördert den Massenkonsum“, sagt Frank Müller. Andreas Wünsch ist trotzdem oder gerade deshalb entschlossen, die Firma eines Tages zu übernehmen. „Solange es eben geht, will er Wünsch & Co fortführen“, sagt Hartmut Wünsch, während er beobachtet, wie sein Sohn die Hightech-Aktentasche vorsichtig wieder zurücklegt. Der 31-Jährige ist zuversichtlich: „iPad- und iPhone-Hüllen machen inzwischen einen beachtlichen Anteil am Umsatz aus.“ Es tun sich immer wieder neue Märkte auf.

Denn so herrlich nostalgisch manche Produkte auch anmuten: Manufakturen sind keineswegs nur rückwärts orientiert – und bei weitem nicht jede Manufaktur hat einen hundertjährigen Schrank. Die Schuhmanufaktur Kay Gundlack in Parchim, die auch einen Platz im Buch bekommen hat, wurde erst 2005 gegründet.

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