Die „20-20-20-Ziele“ sind von gestern. Die Formel stand für das in Berlin und Brüssel beschlossene Ziel, bis zum Jahre 2020 etwa 20 Prozent weniger Kohlendioxid (als im Jahr 1990) auszustoßen und den Anteil der Erneuerbaren an der gesamten Energieproduktion auf 20 Prozent zu steigern. Heute taucht das Schlagwort kaum noch auf: Bis 2020 sind es keine sieben Jahre mehr, das Klimaziel ist wegen des Sterbens alter Industrien in Osteuropa schon fast vollständig erreicht, und beim Erneuerbaren-Ziel ist man auf gutem Weg. Daher hatte EU-Energiekommissar Oettinger im März sein „Grünbuch“ vorgelegt, um den Diskussionsrahmen für die europäische Klima- und Energiepolitik bis 2030 und darüber hinaus zu setzen.
Am Mittwoch stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin seine Position für den politischen Prozess in Brüssel vor. Claudia Kemfert, die Leiterin der Energieabteilung des Instituts, kritisierte die Kommission, weil die Atomkraft als Klimaschutztechnologie zu billig rechne. Die Kosten für Wind- und Sonnenenergie würden dagegen zu hoch angesetzt.

Kemfert präsentierte historische Investitionskostenanalysen für Akw-Erzeugungskapazitäten. So habe man im Atomstromland Frankreich 1980 mit 1000 Euro je Kilowatt Kraftwerkskapazität gerechnet. Zehn Jahre später, 1990, hätten die Franzosen festgestellt, dass man bis 1600 Euro für ein Kilowatt Akw-Kapazität ausgeben muss, im Jahr 2000 sogar bis zu 3000 Euro. Die steigenden Investitionskosten reflektieren die gestiegenen Sicherheitsanforderungen, sagte Kemfert. In Finnland, wo sich der Bau eines Druckwasserreaktors der 3. Generation (Olkiluoto 3), immer weiter verzögert, sei man 2006 noch von Investitionskosten von 1500 Euro ausgegangen. Seit 2012 rechne man 5100 Euro je Kilowatt. Addiere man die Kosten, die im Falle einer Havarie von der Gemeinschaft zu tragen wären, würden gar bis zu 7000 Euro fällig. Kemfert verwies auf Großbritannien, wo die Regierung Kernkraftwerke bauen will. Da diese marktwirtschaftlich nicht zu finanzieren seien, denke man über eine Akw-Umlage nach.

Bei den Erneuerbaren würde die EU- Kommission offenbar mit sehr alten Zahlen operieren und daher die Kosten für Grünstromkapazitäten viel zu hoch ansetzen, urteilte Kemfert. Beispiel Solarstrom: Brüssel gebe in der Statistik den Preis für ein Kilowatt-Peak (Einheit für Produktion unter besten Sonnenbedingungen) bei fast 4200 Euro im Jahr 2010 an. Andere Studien hätten indes ergeben, dass eine entsprechende Fotovoltaikkapazität damals 1600 Euro gekostet habe.

Am kritischsten sehen die DIW-Forscher die EU-Ziele zur CCS-Technologie. Dabei wird das zum Beispiel bei der Kohleverstromung anfallende CO2 unter der Erde verpresst. Das Haus Oettinger fördert einige Pilotprojekte in Europa und hält die Technologie für so vielversprechend, dass sie zumindest ab dem Jahr 2040 einen signifikanten Beitrag zur klimafreundlichen Stromerzeugung leisten soll (siehe Grafik). „Wir haben uns alle Pilotprojekte angeschaut und festgestellt, das keines wirtschaftlich arbeitet“, sagte Kemfert. Ihre Botschaft für Brüssel lautet also: „Erneuerbare Energien sind die einzige Option für eine nachhaltige und CO2-arme europäische Stromwirtschaft.“
Als Kronzeuge für die These, dass konventionelle Kraftwerke im EU-Energiemix an Bedeutung verlieren werden, bot sich am Mittwoch Peter Terium, der Chef des Kohlestromkonzerns RWE, an. Dem „Manager Magazin“ sagte er, dass 30 bis 40 Prozent seiner Kraftwerke wegen des Strompreisverfalls bald „im roten Bereich“ sein würden, sich also nicht mehr rechnen. „Wir befinden uns in der größten Branchenkrise aller Zeiten“, sagte er.
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