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Aus der Balance: Bei den Pflegekosten muss die junge Generation entlastet werden, fordern Experten.

© Christophe Gateau/dpa

Bertelsmann-Studie drängt auf Steuerzuschüsse: Experten fordern Entlastung von Jüngeren bei Pflegekosten

Wissenschaftler warnen vor einer Überlastung Jüngerer durch explodierende Pflegekosten. Sie raten zu vorgezogener Beitragserhöhung und hohen Steuerzuschüssen.

Durch die beständig steigenden Kosten für die Pflege droht der Ausgleich zwischen den Generationen aus der Balance zu geraten. Zu diesem Befund kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die auf Modellrechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos beruht und an diesem Donnerstag veröffentlicht wird. Um die Lasten gerechter zu verteilen und nicht bloß auf die Jüngeren abzuladen, empfehlen die Autoren eine vorsorgliche Beitragsanhebung schon vom kommenden Jahr an. Gleichzeitig müsse es einen wachsenden Zuschuss aus Steuermitteln in Milliardenhöhe geben.

Ohne Eingriffe droht bis 2050 ein Pflegebeitrag von 4,9 Prozent

Wenn man nichts unternehme, werde der Beitragssatz im Jahr 2025 von heute 3,05 Prozent auf 3,25 Prozent und bis 2050 dann weiter auf bis zu 4,9 Prozent klettern, heißt es in der Studie. Gründe dafür seien die demografische Entwicklung, die steigende Bedeutung professioneller Pflege und die Dynamisierung der Leistungsausgaben analog zum Anstieg des Bruttosozialprodukts. Allein die Zahl der Leistungsempfänger werde sich bis 2050 von 3,3 auf 5,3 Millionen erhöhen – ein Zuwachs um fast 60 Prozent. Sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung erhielten dann Leistungen aus der Pflegeversicherung, gegenwärtig seien es grade mal 3,5 Prozent. Und weil gleichzeitig der Anteil von Demenzkranken und schwerst Pflegebedürftigen in höherem Alter steige, erhöhten sich auch Pflegeaufwand und fachliche Anforderungen.

Das alles kostet. Und ohne Änderung des bisherigen Finanzierungssystems wären von der Mehrbelastung vor allem jüngere Generationen betroffen, sie hätten schlicht immer höhere Beiträge zu schultern. Um das zu vermeiden, empfehlen die Bertelsmann-Autoren, den Beitragssatz schon 2020 um knapp einen halben Punkt auf 3,5 Prozent zu erhöhen. Zeitgleich müsse man damit beginnen, der Pflegeversicherung mit einem Bundeszuschuss unter die Arme zu greifen. Dieser läge den Experten-Rechnungen zufolge zu Beginn bei 9,6 Milliarden Euro, er wäre bis 2050 auf 24,5 Milliarden zu erhöhen. Die zunächst überschüssigen Mittel könnten dann in den bereits existierenden Pflege-Vorsorgefonds fließen und dazu dienen, den Beitragssatz bis 2050 stabil bei 3,5 Prozent zu halten.

Bestehender Vorsorgefonds reicht nicht

Angesichts des prognostizierten Finanzbedarfs reiche der bestehende Vorsorgefonds ebenso wenig aus wie die von der Versicherungswirtschaft vorgeschlagene Stärkung der Privatvorsorge, meinen die Wissenschaftler. „Wir brauchen bei der Pflege einen neuen Generationenausgleich innerhalb des solidarischen Umlagesystems“, fordert Bertelsmann-Vorstandsmitglied Brigitte Mohn. Auch an der Vorsorge müssten „alle nach ihrer Leistungsfähigkeit beteiligt werden“.

Der Zuschuss aus Steuern würde aber nicht nur künftige Beitragszahler entlasten. Er hätte auch zur Folge, dass Besserverdienende oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze stärker herangezogen würden. Viele Einkommensstarke seien zudem privat versichert, also dem Solidarausgleich bisher ganz entzogen. Ein Umstand, den die Unternehmerin Mohn für problematisch hält. „Unabhängig davon müssen wir uns bei der Pflege- wie bei der Krankenversicherung fragen, ob die Aufspaltung in ein gesetzliches und privates Versicherungssystem noch zeitgemäß ist“, gibt sie zu bedenken.

Alternativ zu ihrem Vorschlag präsentieren die Studienautoren drei weitere Finanzierungsvarianten. In der ersten würde ein Bundeszuschuss von anfangs zwei Milliarden und später 5,8 Milliarden den Beitragssatz bis 2050 lediglich auf 4,5 Prozent halten. In der zweiten gäbe es zusätzlich zu dem moderaten Zuschuss bereits im kommenden Jahr eine Beitragserhöhung auf 3,5 Prozent – was diesem Satz dann bis 2040 Stabilität garantieren würde. In Alternative Nummer Drei würde der Beitrag bei gleichem Zuschuss im nächsten Jahr auf stolze 4,0 Prozent erhöht, er würde sich dann bis 2050 nicht mehr verändern. Allerdings betonen die Autoren, dass sie ihr Szenario mit den deutlich höheren Steuerzuschüssen für „die beste Lösungsvariante“ halten.

Plädoyer für mehr Fachkräfte mit Hochschulabschluss

Gleichzeitig raten sie in ihrer Studie dazu, den Pflegeberuf spürbar aufzuwerten – und zwar durch ein „gestuftes Qualifikationsmodell“. So sollte es aus ihrer Sicht deutlich mehr Fachkräfte mit pflegewissenschaftlichem Hochschulabschluss geben. Bisher verfügten hierzulande gerade mal ein Prozent der Pflegekräfte darüber. Zum Vergleich: In den Niederlanden würden 44 Prozent des Pflegenachwuchses akademisch ausgebildet. Und Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass sich die Qualität der Arbeit auf diese Weise und durch einen „intelligenten Fachkräftemix“ spürbar verbessern lasse.

Zudem belegt die Studie, dass der Fachkräfteanteil in der Langzeitpflege hierzulande nicht nur niedrig, sondern sogar kontinuierlich zurückgegangen ist. Bei den ambulanten Diensten sank er in den vergangenen zehn Jahren von 59 auf 50 Prozent, in den Heimen von 39 auf 35 Prozent. Dafür würden im Verhältnis immer mehr Pflegehelfer, Angelernte und Azubis beschäftigt, heißt es in der Expertise. „Diese Entwicklung bedeutet eine Deprofessionalisierung und steht im Widerspruch zu den steigenden Anforderungen und sich wandelnden Aufgaben in der Langzeitpflege.“ Schließlich liege nicht nur der Anteil demenzkranker Heimbewohner bereits bei mehr als 70 Prozent. Auch psychosoziale, gerontopsychiatrische und medizinisch-pflegerische Versorgung werde immer wichtiger.

Die finanziellen Auswirkungen der geforderten fachlichen Aufwertung wären „überschaubar“, versichern die Studienautoren. Wenn die Hälfte der heutigen Pflegefachkräfte akademisch qualifiziert und um zehn Prozent besser bezahlt würde, erhöhten sich die Personalkosten in den Heimen grade mal um etwa 2,7 Prozent, rechnen sie vor. Das wäre ein Ausgabeplus von rund einer Milliarde Euro. Und der zusätzliche Einsatz von jeweils einer besonders hoch qualifizierten Pflegekraft mit Masterabschluss pro Pflegeheim zur besseren Koordination und Kooperation aller Pflegebeteiligten würde noch mal rund 700 Millionen Euro jährlich kosten. Macht insgesamt 1,7 Milliarden Euro, also weniger als fünf Prozent der gesamten Leistungsausgaben der Pflegeversicherung.

In diesem Fall müssten den versierteren Pflegekräften dann aber auch Aufgaben zugewiesen werden, die ihrer Kompetenz und Qualifikation entsprächen, mahnen die Bertelsmann-Autoren. Dazu gehörten auch Tätigkeiten, die bisher Ärzten vorbehalten seien. Hier gelte es, die erforderlichen rechtlichen Grundlagen zu schaffen.

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